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lebendig
Registriert seit: 28.10.2009
Beiträge: 350
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So ein Tag
Thomas begibt sich zur Berufsschule. Er ist 19 Jahre alt und damit einer der jüngsten seiner Klasse. Er hat keine Lust, heute zum Unterricht zu gehen, so wie er allgemein keine Lust auf irgendetwas verspürt. Die Depression, die ihn in einem dicken Schleier umhüllt, nimmt er zwar selber nicht wahr, aber sie bestimmt sein Leben maßgeblich. Thomas weiß noch nicht, dass sich sein Leben heute entscheidend ändert... Die Ausbildungsstelle zum Einzelhandelskaufmann hat er nur bekommen, weil sein Vater, der sich seiner Meinung nach viel zu oft in sein Leben einmischt, ein gutes Wort bei der Geschäftsführung der Ladenkette eingelegt hat. Dort ist er schließlich stellvertretender Abteilungsleiter und hat so direkten Einfluss auf seinen Sohn, was dieser natürlich wenig begeistert hinnehmen muss. Er bewegt sich nun langsam auf den Haupteingang der Schule zu. Cypress Hill hämmert ihm gerade den Beat von Lowrider über Ohrstöpsel in den Kopf. Sein Schritttempo ist jedoch nicht annähernd dem, seiner Meinung nach, schnellen Takt angepasst. Gähnend, kopfschüttelnd und das leere Gefühl im Magen ignorierend erklimmt er langsam die Stufen. Nach einem Blick auf die Uhr beschließt er, dass noch genug Zeit für eine selbstgebaute, am Ende breiter werdende Zigarette ist. Thomas weiß noch nicht, dass sich sein Leben heute entscheidend ändert... Seine Mutter hing ihm andauernd in den Ohren mit ihren teils provozierenden und teils verständnis-heischenden Sprüchen. ‚Versteh doch auch mal den Papa’ sagte sie immer wieder. ‚Er will doch nur, dass du aus deinem Leben etwas machst!’ Er konnte sich das nie lange anhören und dachte sich immer nur ‚Er will aus meinem Leben etwas machen, und nicht anders’. Manchmal kam ihm auch der Gedanke, dass seine Mutter sich seinem Vater zu sehr unterordnete und ihn dadurch nie verstehen konnte. Es gab nur selten Versuche seiner Mutter, gegen seinen Vater aufzubegehren und diese wurden durch lautes Geschrei und ein knallendes Geräusch eingedämmt und immer seltener. Ähnlich verliefen auch seine Versuche. In der Raucherecke auf dem Pausenhof erblickt Thomas seine zwei Kollegen Micha und Pelle, die gerade genüsslich schweren, süßlich riechenden Dampf gen Himmel blasen. „Na, allet fit?“ fragt er. ‘Yo’ erwidert Pelle und sieht Thomas aus roten, verkleinerten Augen an. ‚Nur absolut keinen Bock, heute.’ ‚Yo, allet scheiße’ stimmt Micha in den kurzen Choral mit ein. Das reicht nun erst mal an morgendlicher Konversation und die drei rauchen schweigend ihre Joints und suchen fünf Minuten später gemäßigten Schrittes ihren Klassenraum auf. Thomas weiß noch nicht, dass sich sein Leben heute entscheidend ändert... Als er 17 Jahre alt war hatte Thomas das Kiffen entdeckt und war seitdem ein starker Verfechter dieser Subkultur geworden. Wenn er genug geraucht hatte, waren seine quälenden Gedanken an seinen Vater und an Nicki vergessen. Er konzentrierte sich dann nur noch auf die Playstation und die gelegentlichen Lachkicks seiner ‚Freunde’. Das Fenster in seinem Zimmer war natürlich ständig geöffnet, der Aschenbecher und die Rauchutensilien gut unterm Tisch verstaut und die Dose mit dem Raumspray immer griffbereit. Seine Eltern durften von diesen Meetings natürlich nichts mitbekommen, denn er hatte keine Lust auf eine ein zweites mal gebrochene Nase. Im Klassenraum angekommen, wird ihm bewusst, dass in den ersten zwei Stunden Religion auf dem Plan steht. Das heißt zwei Stunden dringend benötigten Schlaf. Der Lehrer erzählt irgendwas von Kreuzzügen, doch in seinem Dämmerzustand interessiert es ihn gar nicht und er wird erst wieder wach, als das durchdringende Läuten der Schulglocke seine Ohren erreicht. Er rappelt sich auf, empfängt einen strafenden Blick vom Lehrer und entfernt sich unbekümmert aus dem Klassenraum auf den Pausenhof zu. Thomas weiß noch nicht, dass sich sein Leben heute entscheidend ändert... Damals, als Nicki noch lebte, konnten ihm die Launen seines Vaters nichts anhaben. Sie flüchteten beide vor ihren Familien und trafen sich auf dem Spielplatz, wo sie schon als Kinder im Sandkasten zusammen gespielt hatten. Nicki war schon seit frühester Kindheit seine beste Freundin gewesen und als beide 14 wurden, gesellte sich zum Gefühl der tiefen Verbundenheit noch ein anderes. Den Mächten ihrer Hormone waren sie hoffnungslos unterlegen und sie versuchten nicht lange, diese zu bekämpfen. Nicki war das erste und einzige Mädchen, das er liebte. Auf dem Pausenhof angekommen sucht Thomas Micha und Pelle, um mit ihnen noch einen rauchen zu gehen. Doch er kann sie nicht finden. ‚Sind bestimmt schon ohne mich los’, denkt er sich und verflucht seine Kollegen. Also bleibt er in einer Ecke stehen und schaut sich das Treiben auf dem Schulhof an. Er sieht viele Gesichter, die er sich noch nie näher angesehen hat. Auf einmal fällt ihm ein hübsches Mädchen auf, das in einem Kreis von anderen Mädchen steht und ihm halb zugewandt ist. Ihr Lachen erinnert ihn stark an Nicki und ihre Art gefällt ihm sehr. Er ist vollkommen fasziniert von diesem süßen Mädchen und er starrt fast die gesamte Pause lang in ihre Richtung Thomas weiß noch nicht, dass sich sein Leben heute entscheidend ändert... Nicki war die erste, deren Brüste er anfassen durfte, und ihr Mund schmeckte immer so lecker nach Pfefferminz. Die endlosen Gespräche und ihr Vertrauen untereinander waren jedoch das Wichtigste. Ihre Probleme schweißten sie eng zusammen. Als sie dann mit ihrer Mutter bei einem Autounfall starb, brach für ihn eine Welt auseinander. Auf der Beerdigung war er nicht fähig, eine einzige Träne zu vergießen. Er stand einfach nur still da und hörte das dumpfe Geräusch, welches die Erde auf dem Sarg verursachte, nur hinter einem Vorhang vor seiner Seele. Danach war nichts mehr, wie es einmal war. Er war 16 ½ Jahre alt und die letzten zweieinhalb Jahre waren für ihn der Himmel auf Erden. Es folgte die Hölle. Dem hübschen Mädchen ist schon nach fünf Minuten aufgefallen, dass Thomas sie anstarrt. Sein erstaunter, melancholischer, hoffnungsvoller, fragender, antwortender Blick zieht sie in seinen Bann. Sie fragt ihre Freundin Kerstin ‚Wer isn das da?’ ‚Ach – das is so’n Kiffer aus meiner Klasse, wieso?’ ‚Ich find ihn irgendwie süß!’ ‚Du spinnst doch!!’ Doch Lena kann den Blick nicht von Thomas lassen. Dieser merkt gar nicht, dass auch sie ihn nun anstarrt. Erst als sie aus dem Kreis hinaustritt und langsam auf ihn zukommt, bemerkt er sie. Nach einer endlos lang scheinenden Zeitspanne, in der sie auf ihn zuzuschweben scheint steht sie vor ihm und fragt ‚Du heißt Thomas oder?’ Jetzt endlich weiß Thomas, dass sich sein Leben heute entscheidend ändert... Geändert von Quicksilver (15.01.2010 um 08:16 Uhr) |
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#2 |
Erfahrener Eiland-Dichter
Registriert seit: 14.03.2009
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Beiträge: 4.892
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hallo quicksilver,
"heute ist der erste tag vom rest deines lebens" fällt mir ganz spontan dazu ein. du hast den tristen (schul-) alltag des 19-jährigen so konkret beschrieben als würdest du ihn persönlich kennen und täglich treffen. beim lesen fiel mir der wechsel in der erzählzeit sofort auf: gegenwart - rückblende - gegenwart - rückblende , erinnerte mich ein bisschen an gewisse filme, wo man aus dem blickwinkel einer einzigen person die geschehnisse betrachtet, was aber immer wieder mit einnerungen überlagert wird. der satz: thomas weiß noch nicht, dass........ baut sehr schön die spannung auf - ich persönlich hätte mir dann aber für den schluss etwas spektakuläreres erwartet, nicht bloß ein neues mädel. ( aber das liegt vielleicht an meinem alter oder meiner eigenen lebenssituation - partnersuche scheint da kein so vorrangiges thema zu sein). wenn ich hingegen an meinen sohn denke, könnte ich mir schon vorstellen, dass eine entsprechende "sie" sein universum kräftig auf den kopf stellen könnte... ![]() dann möcht ich doch mal den thomas beglückwünschen zu seine eroberung und dich zu deiner gelungenen kurzgeschichte! liebe grüße, larin |
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#3 | ||||||||||||||
Erfahrener Eiland-Dichter
Registriert seit: 31.10.2009
Ort: Freiburg
Beiträge: 151
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Hallo Quicksilver,
du schreibst fluessig, setzt gekonnte Rueckblenden ein, die die einzelnen Personen charakterisieren und ihre Haltung dem Leser verstaendlich machen. Ich konnte verstehen, dass die Begegnung mit dem Maedchen etwas Besonders fuer den jungen Mann ist. Gerne gelesen. Anmerkungen zum Text: Zitat:
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Seine Eltern durften von diesen Meetings natürlich nichts mitbekommen, denn er hatte keine Lust auf eine ein zweites Mal gebrochene Nase. Zitat:
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Bei der woertlichen Rede zwischen den beiden Maedchen solltest du vielleicht noch einmal die Zeichensetzung ueberpruefen. Erst als sie aus dem Kreis hinaustritt und langsam auf ihn zukommt (Komma)bemerkt er sie. Nach einer endlos lang scheinenden Zeitspanne in der sie auf ihn zuzuschweben scheint (Komma)steht sie vor ihm und fragt : ‚Du heißt Thomas (kein Komma) oder?’ Zitat:
Schau mal, ob du mit meinen teils subjektiven Anmerkungen etwas anfangen kannst. Gruss Pedro
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>Die Kritiker nehmen eine Kartoffel, schneiden sie zurecht, bis sie die Form einer Birne hat, dann beißen sie hinein und sagen: „Schmeckt gar nicht wie Birne.“< (Max Frisch) |
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#4 | |||||||
lebendig
Registriert seit: 28.10.2009
Beiträge: 350
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Hallo larin,
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Hallo Pedro, ich habe fast alle deiner Anregungen umgesetzt. Folgendes möchte ich näher erklären: Zitat:
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Auch über deinen eingehenden Kommentar habe ich mich sehr gefreut. Ich habe diese Geschichte vor langer Zeit geschrieben und mich danach nicht mehr oft an welche herangewagt. Es gibt 4 oder 5 von mir, die aber allesamt mindestens vor 3 Jahren oder noch früher entstanden sind. Vielleicht lasse ich noch eine davon von euch prüfen ![]() Viele Grüße an beide von Quicksilver
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