Ganz große Klasse!
Und so schön böse, originell und - wahr.
Schon die Ansprache "oh, Konfusion ... lässt mich aufhorchen, ein Interesse, das bis zum Ende des Gedichts in keinem Augenblick erlahmen wird, genährt durch herrliche Neologismen wie "WG-Tarium", "Schmecktakel" und den nicht minder treffsicheren "Ohrgasmaus."
Wunderbar auch die (teilweise) wütende Leidenschaft, die den Text durchtränkt.
Kurzum: 100 von 100 Punkten.
Zitat:
Requiem auf eine Divergenz
Oh, Konfusion, du Federtrieb des Lebens,
du Irrwisch, der im Durcheinander steckt,
stets warst du ein Gespinst geträumten Webens
und meines Chaos’ Synergieeffekt.
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Aktueller, ökonomiegeprägter Sprachgebrauch ("Synergieeffekt") mischt sich hier mit einem tänzelnden Irrwisch, dem Traum, dem Wunschdenken: die Entwicklung vom Wunderlichen zum Wunderbaren hin.
Zitat:
Ich fasste einmal hinter meiner Stirn kurz
dem WG-Tarium aus Wahn und Qual
ins Klo und fand dort nur den kleinen Hirnfurz
der mainstreamangepassten Scheinmoral.
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Kann dieser Abschied von einer Globalisierung jedweden Denkens überhaupt gelingen? Falls ja, auf welche Weise? Ist es dem Einzelnen überhaupt möglich?
Zitat:
Solch Sockenpuppe stank nach Nuttendiesel,
Schmecktakel pur, vom Allerfeinsten, doch
versank dabei mein Weltbild mit Geriesel
in eines Popcorn-Kinos Sommerloch.
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Hach, jetzt taucht die Sockenpuppe auf, mein kleiner Liebling.

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Denn wenn das Weltbild ein nüchternes ist, sei es nun saisonbedingt oder überhaupt, wird das Püppchen wenig ausrichten. Besonders wenn es mit Diesel betankt wird.

Zitat:
Die Lichtspielbühne war ein Eulenspiegel
und im Reflektorzentrum stand mein Narr,
der pfiff nur noch auf einem Lungenflügel
vom Arschgeweih bis zum Gesichtskatarrh.
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Es folgt die Phase der Einsicht: Alles Scheiße, zumindest aber umsonst. Für lau gedacht, für lau gesagt.
Zitat:
Verstörend spielte dieser Lichtableiter
romantisch seine Rolle in dem Stück,
er schiss Klischees von seiner Hühnerleiter
und hielt dies für sein größtes Dichterglück.
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Dies muss den Dichter naturgemäß verstören. Denn die Welt weist ihm
a) den Rücken und
b) ein Plätzchen im Obdachlosenasyl zu.
Zitat:
Vom Augenkrebs gepeinigt rief ich böse:
Hier, Staatstrojaner, endet alle Not!
Denn vom Ohrgasmus in der Truckermöse
kann niemand leben und ich schlug ihn tot.
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Das Schlimmste aber bleibt, dass der Verlust an Sprache, Sinn und Lust, an Mannigfaltigkeit und Kunst ein
allgemeines Phänomen ist. Dass im www
viel weniger Platz dafür ist als in einem kleinen Apartment.
Zitat:
Und nun erschaffe ich ihm eine Büste
fürs Grab mit einer Platte, darauf steht:
Auf Sextourismus in der Servicewüste,
hier ruht mein unverstandener Poet.
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Jetzt erscheint das Resumee, die Bitternis des Wissenden:
Nur in der Ironie ist Überleben möglich.
Offen bleibt die Rolle des Anklägers selbst, der einerseits aktiver Teilnehmer des Spiels ist, andererseits durch sein Reflektionsvermögen gleichsam über der schnöden Realität schwebt.
Für mich in großArtiges Gedicht, mit dem ich mich ausgesprochen gern beschäftigt habe.
LG
Marcy