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Alt 03.04.2010, 08:34   #1
Pedro
Erfahrener Eiland-Dichter
 
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Standard Aus meinem Tagebuch: ChileII

Aus meinem Tagebuch: Chile II

Jaime und Susana


In jenen Zeiten, das ist schon länger her, war es nicht schwierig, Geld aus dem Ausland zu erhalten.
Besonders leicht war es, wenn Einzelnen geholfen werden sollte. Europäer, besonders Deutsche, waren bereit und willig zu helfen, wenn man nur an ihr Mitleid appellierte. Für großartige Ideen, es gab kaum welche, war es schwierig, Hilfe zu bekommen.
Für die Operation des Blinden kam Geld.

Jaime war als Kind erblindet. Einige sagten, er sei krank gewesen, andere, er habe zu viel onaniert.
Es hieß immer, man könne ihn operieren, wenn nur ausreichend Geld da wäre.
Er fand sich gut zurecht, seine Hütte war klein, alles musste immer am gleichen Ort stehen. Das war nicht schwer, stand doch fast nichts in der Hütte.
Er fiel auch im Ort nicht besonders auf, höchstens seine große Sonnenbrille. Er saß wie die anderen Männer herum, trank mit ihnen, wenn Geld da war, Bier oder Wein.
Manchmal zuviel.
Wenn er ein Klavier hätte, wäre er sicherlich ein berühmter Pianist, sagte er immer wieder. Meistens, wenn er zu viel getrunken hatte.
Er hatte von einem berühmten blinden Pianisten gehört.
Gute Freunde von ihm hatten einmal versucht, ein Klavier für ihn zu erwerben. Sie waren irgendwo eingebrochen, hatten einen Flügel aus einem Haus geholt. Die Hausbesitzer waren gerade irgendwo in Europa. Der Transport bereitete größere Schwierigkeiten. Es gelang ihnen, einen Lastwagen zu besorgen.
Der Flügel passte aber dann nicht durch die Tür von Jaimes Hütte. Als sie die vordere Hauswand einreißen wollten, war Jaimes Frau Susana dagegen. Das Piano habe auch in der Hütte keinen Platz, sagte sie.
Eines Tages nach viel Wein versuchte Jaime ein Konzert unter freiem Himmel zu geben. Als er merkte, dass das nicht funktionierte, meinte er, man könne nur unter Dächern spielen. Alle berühmten Leute hätten stets unter einem Dach ihre Konzerte gegeben.
Der Flügel stand dann längere Zeit bei Regen und Sonnenschein auf der Straße herum, Kinder sprangen auf ihm herum.
Irgendwann wurde er zu Feuerholz verarbeitet. Mit dem Draht der Saiten konnte man die Dächer der Hütten fester anbinden und Wäsche aufhängen.

Fast alle Frauen der Población (Elendsviertel) arbeiteten irgendwo.
Susana machte bei reichen Leute die Häuser sauber. Sie fand immer leicht eine Stelle. Jede Hausfrau stellte sie sofort an - sie war keine Gefahr für deren Ehemann.
Susana hatte einen schönen Körper, war überall gepolstert, wo es sein sollte. Sie hatte gute Beine, lange schwarze Haare, war nicht zu groß und nicht zu klein. Im Bett brauchte man ihr kein Kissen unter den Hintern zu legen, wie man es hier ausdrückte. Und eine Stimme hatte sie, weich und verführerisch.
Aber ihr Gesicht war kaum zu beschreiben, sah es doch aus wie Frankensteins Monster.
Die Eheleute liebten sich beide sehr, gingen zärtlich miteinander um.

Ich fuhr in die Hauptstadt, sprach mit verschiedenen Ärzten. Jaime wurde untersucht. Ja, man könne ihn operieren, wahrscheinlich könne er dann normal sehen.
Susana brachte ihn ins Krankenhaus, sie war begeistert, Jaime auch.
Ein neues Leben würde für sie beginnen, vielleicht würde Jaime sogar Konzertpianist. Sie würden dann zusammen bis ans Ende aller Tage in einem schönen Haus wohnen, mit einem großen Garten, vielleicht auch mit Schwimmbad.
Susana hatte solche Häuser bei ihrer Arbeit kennen gelernt.

Nach einer Woche ging ich ins Krankenhaus.
Jaime lag strahlend im Bett. Er konnte jetzt sehen. Er müsse mir etwas sagen, erklärte er. Ich merkte, dass es ihm ziemlich schwer fiel.
Nein, er brauche sich nicht großartig zu bedanken, das sei unnötig, meinte ich.
Es gehe um etwas anderes, sagte Jaime:
„ Ich habe mich von Susana getrennt“!
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Alt 08.04.2010, 13:14   #2
Falderwald
Lyrische Emotion
 
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Hallo Pedro,

wieder einmal stehe ich fassungslos vor einer deiner Geschichten.

Und wieder einmal bewahrheitet sich der alte Spruch: Undank ist der Welt Lohn.

War ich beim Lesen deiner Geschichte auch zuerst bereit, deinem Protagonisten Jaime alle Flausen und Spinnereien zu verzeihen und sogar Mitleid mit ihm zu haben, bleibt mir am Schluss nur ein verständnisloses Kopfschütteln übrig, konnte er das Gute, was ihm getan wurde, doch letztendlich nicht würdigen.

Es ist traurig, daß es so etwas gibt.

Da stellt sich mir die Frage, ist wirklich alles so, wie ich es mit meinen Augen sehe?
Zählt nur das, was ich sehe oder gibt es darüber hinaus etwas, was ich mit meinen Sinnen nicht erfassen kann?

Jaime jedenfalls hat das Geschenk der Liebe zurückgewiesen, nachdem er mit dem Augenlicht beschenkt wurde.

Alles ist so verdammt relativ...

Da hat er etwas Wertvolles bekommen und sich selbst etwas anderes genommen.

Die Geschichte hat mir gefallen, der Charakter des Protagonisten nicht.

In diesem Sinne gerne gelesen und kommentiert...


Liebe Grüße

Bis bald

Falderwald
__________________


Oh, dass ich große Laster säh', Verbrechen, blutig kolossal, nur diese satte Tugend nicht und zahlungsfähige Moral. (Heinrich Heine)



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Alt 08.04.2010, 14:36   #3
Pedro
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Hallo Falderwald,

du schreibst:

Zitat:
Alles ist so verdammt relativ...
- so sehe ich das auch

Zitat:
Da stellt sich mir die Frage, ist wirklich alles so, wie ich es mit meinen Augen sehe?
- wahrscheinlich ist nichts so, wie wie es sehen, wir machen uns unsere Wirklichkeit.
(Kann dir ein Buch empfehlen: Der Ego-Tunnel von Thomas Metzinger)

Freut mich, dass meine Geschichte bei dir angekommen ist.

Gruß

Pedro
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Alt 10.04.2010, 20:05   #4
Dana
Slawische Seele
 
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Hallo Pedro,
evtl. machst du mich noch zum Kurzgeschichtenfan.
Diese habe ich gelesen und teilweise das Atmen vergessen. Der Schlusssatz zwingt zum Schweigen und erst dann folgt ein Nachdenken.

Die Geschichte selbst berührt tief und zu Beginn neigt man dazu, Jaime zu verachten und mit Susanna zu fühlen.

Dann aber erkennt man die eigene Erwartungshaltung. Jaime hat sich dankbar zu zeigen, egal mit welchem Gesicht Susanna lebt. Dürfen wir das verlangen? Ich weiß es nicht. Ich kann es Susanna höchstens wünschen.
Jaime wurde trotz der Blindheit glücklich. Konnten die Helfer das Ergebnis ihrer Hilfe voraussehen? Nein.

Es ist keine eigene Philosophie, die ich hier entwickele. Ich habe einmal einen "Wälzer" über das menschliche Helfersyndrom bzw. über den Wissenschaftsdrang gelesen und war zutiefst erschüttert. Es ging auch darum, Blinden das Sehvermögen wieder zu geben.
Man hat Studien mit Betroffenen betrieben und erfahren, dass sie beim plötzlichen Sehen, Hören unglücklich wurden. Für sie oder auf sie stürzten fremde Welten ein, die so gar nicht ihrer bisherigen Welt entsprachen.
Und nun das Erschütternste: Sie wollten das Bisherige wieder haben.
Dinge, von denen wir keine Ahnung haben und die aus Dankbarkeit vielleicht nicht geäußert werden.
Es mag anders sein, wenn jemand vorher sehend gewesen ist.

Mein Kommentar will um Himmels Willen nicht urteilen und bewerten.
Die Geschichte selbst hat mich an dieses Buch erinnert und nachdenklich gemacht - langanhaltend.

Liebe Grüße
Dana
__________________
Ich kann meine Träume nicht fristlos entlassen,
ich schulde ihnen noch mein Leben.
(Frederike Frei)
Dana ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 11.04.2010, 04:31   #5
Pedro
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Morgen Dana,

so ein Lob am frühen Morgen erfreut jedes Autorenherz.

Deine Ausführungen über "Helfersyndom" kann ich gut nachvollziehen.
Es gibt ein altes indisches Sprichtwort:
"Warum hilfst du mir, ich habe dir doch nichts getan."
Da scheint mir einiges dran zu sein.
Ich habe in meinem Leben in verschiedenen Organisationen gearbeitet, die sich mit der Hilfe für die Dritte Welt befasst haben.
Rückblickend muss ich leider sagen, dass "unsere" Hilfe nicht immer unproblematisch war.

Zitat:
evtl. machst du mich noch zum Kurzgeschichtenfan
Ich hatte bis vor einigen Jahren mit Kurzgeschichten nichts am Hut. Habe immer sehr viel gelesen, je dicker der Wälzer war desto besser.
Heute sehe ich das anders, Kurzgeschichten begeistern mich Ich habe bei mir zu Hause eine ziemlich große Sammlung von berühmten Autoren davon, habe alle gelesen und entdecke immer stärker die Mittelmäßigkeit meiner Schreibversuche.

Gruß

Pedro
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