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Denkerklause Philosophisches und Nachdenkliches

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Alt 26.04.2021, 20:23   #1
Thomas
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Bereit

Reich mir die Hand in dieser finstern Zeit
und hilf mir durch die Dunkelheit zu gehen,
und lass mich meine Endlichkeit verstehen.
Reich mir die Hand, ich bin dafür bereit.

Gib mir Geduld, was immer kommen mag,
das anzunehmen, was du mir erwählt,
es anzunehmen, bis es nicht mehr quält.
Gib mir Geduld zu warten auf den Tag.

Ich will mich dann an deiner Hand erheben
und nicht von deiner Seite will ich weichen
und freudig werd ich über Meere gehen.

Ich werde mit Geduld als Blinder sehen
und werde helfend meine Hände reichen.
Und freudig will ich deiner Liebe leben.
__________________
© Ralf Schauerhammer

Alles, was der Dichter uns geben kann, ist seine Individualität. Diese seine Individualität so sehr als möglich zu veredeln, ist sein erstes und wichtigstes Geschäft. Friedrich Schiller
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Alt 23.10.2021, 13:42   #2
Suzette
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Hallo Thomas,

ein auffällig positives Werk! Gerade in dieser Zeit hat es eine ganz bestimmte
Leuchtkraft neben den vielen dunklen Worten, die natürlich trotzdem auch eine wichtige Rolle spielen.
Vielen Dank!

LG
Su
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Erst, wenn Stolz zu Demut wird, beginnt die Liebe.
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Alt 23.10.2021, 17:04   #3
Thomas
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Liebe Suzette,

vielen Dank, es freut mich, dass du mein Sonett entdeckt hast und es magst. Es ist recht "engmaschig gestrickt", was vielleicht zur Wirkung beiträgt.

Liebe Grüße
Thomas
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© Ralf Schauerhammer

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Alt 24.10.2021, 06:41   #4
whizzl
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Hi Thomas,

ich hab‘s Sonett auch mal unter die Lupe genommen:

Reimschema: abba cddc beb beb
Vers 2, 3, 4, z.B. u - - u, - u - - u - sind vierhebig usw.. Verse in Sonetten sind aber normalerweise entweder fünf- oder sechhebig.
Auffällig ist auch der betonte Wechsel von männlich bzw. weiblichen der Versanfänge bzw. -Endungen, die hier scheinbar bewusst als polarisierendes Stilmittel „männlich – weiblich“ eingesetzt wurden.

Was willst du denn im Folgenden sinngemäß ausdrücken?

1. „ …, was du mir erwählt, ...“ verstehe ich als eine Umschreibung für „fremdbestimmt“
2. „was immer kommen mag, […], es anzunehmen“ ist eine nette Umschreibung für totale Passivität
3. „… bis es nicht mehr quält.“ und das Ganze sollte auch noch quälen, egal wie lange es dauert, bevor es aufhört?

Oben angeführte Formulierungen bilden die Schlüsselsequenz zum Verständnis dieses Sonetts. Ein devotes LI wendet sich an ein dominantes „Du“ damit es sich an der Hand des DU‘s erheben kann. So weit, so gut.
Für mein Sprach-Verständnis ist das ein Gedicht über Sadomasochismus (SM).

Sicher spricht SM im wirklichen Leben ein paar MenschInnen an. Aber ob es wirklich „auffällig positiv“ ist, sei einmal dahingestellt. Wirklich gesund ist es wahrscheinlich nicht.
Bei mir als Leserin kommt dieses Sonett jedenfalls eher, - nun -, wie eine Kurzfassung von „was sie schon immer über Sex wissen wollten“ (ein Film-Klassiker von Woody Allen) an.

lg whizzl
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Warum gibt es Sein und nicht nichts? Darum! (Umberto Eco)
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Alt 24.10.2021, 20:26   #5
Falderwald
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Moin Thomas,

das ist ein schönes Sonett.

Im Gegensatz zu meiner Vorkommentatorin kann ich hier keinen 4-hebigen Jambus entdecken - alle Jamben sind durchgehend 5-hebig.

Ich hätte zwei Interpretationsansätze, wobei mir persönlich natürlich der zweite besser gefallen würde, du weißt schon...

Der Text erinnert mich (grob) an die Lovestory, gesungen von Shirley Bassey - "Where do I begin? To tell the story of how great a love can be, the sweet love story that is older than the sea, the simple truth about the love he brings to me. Where do I start?" ...

Auch hier gibt es zwei Interpretaionsmöglichkeiten.

Zum einen könnte man sowohl deinen als auch Shirley's Text als Hommage an Gott verstehen, zum anderen eben als große Liebesgeschichte.

Bei beiden Möglichkeiten muss man bereit sein, etwas aufzugeben und sich voller Vertrauen (an)leiten lassen. Und das muss man dann auch annehmen.

Wir gehen anscheinend wirklich finsteren, zumindest aber ungewissen Zeiten entgegen und da ist es sicherlich nicht verkehrt, wenn man jemanden hat, auf den man sich verlassen kann.

Das Sonett gefällt mir in diesem Sinne sehr gut, aber ich hätte noch eine Frage:

In der letzten Zeile heißt es:

"Und freudig will ich deiner Liebe leben."

Heißt das tatsächlich "deiner" Liebe oder nicht eher doch "deine" Liebe?


Gern gelesen und kommentiert

Liebe Grüße

Bis bald

Falderwald


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Oh, dass ich große Laster säh', Verbrechen, blutig kolossal, nur diese satte Tugend nicht und zahlungsfähige Moral. (Heinrich Heine)



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Alt 24.10.2021, 21:02   #6
Thomas
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Lieber Falderwald,

herzlichen Dank. Ich hatte heute wegen anderer Dinge Sorgen und konnte nicht auf die physiopathologische Offenbarung antworten.

Es sind eben beide Möglichkeiten in einem, die große Liebe und Gott, wie ich es von Hafis gelernt habe. Aber jeder ist frei zu sehen , was er will.

Mir gefällt das Sonett aus verschiedenen Gründen, u. A. wegen der Zeilenanfänge, die das Reimschema es Sonett spiegeln. Mein Poesie-Freund, der Gelehrte Senil Özkan hat das auch sehr geschätzt und er hat, unmittelbar nachdem er seine Übersetzung von Goethes Faust ins Türkische vollendet hatte, mein Sonett ins Türkische übertragen. Das macht mich schon ein wenig stolz. In Türkisch klinget es so:

DUA

Yardım et şu kasvetli dönemde bana
Yardım et geçeyim şu karanlıktan,
İzin ver faniliğimi anlayayım ben.
Yardım et bana, ben hazırım buna.

Her ne olursa olsun bana sabır ver,
Kabul etmem için, her ne ise takdirin,
Acı dininceye kadar kabul etmem için.
Sabır ver ki bekleyeyim o güne kadar.

Sonra dirilmek isterim senin elinde
İstemem ayrılmak yanından ben de
Ve neşeyle gideceğim denizler üzerinde

ma olarak sabırla göreceğim
Ve yardım elimi uzatacağım.
Aşkını neşeyle yaşamak isterim.


Ich hoffe mehr von dir zu hören, falls es deine neue Aufgabe ermöglicht.

Liebe Grüße
Thomas
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Geändert von Thomas (24.10.2021 um 21:11 Uhr)
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Alt 25.10.2021, 08:49   #7
whizzl
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hi Thomas, hi Falderwald,

es fehlt das „e“ in „finsteren“ und ich lese das so:
Reich mir die Hand in dieser finster[e]n Zeit
u - - u - - - u - - u
und hilf mir durch die Dunkelheit zu gehen
- u u - - u - - - u -
usw. usw.
Vermutlich ist es müsig darüber zu streiten, wer, wann, wo, wie die Stimme erhebt oder auch nicht.

Das Sonett bekommt so vielleicht die Bedeutung eines Gebets oder etwas Ähnliches (ich spreche nicht Türkisch), obwohl ich trotzdem nicht erkennen kann, dass sich deshalb etwas an der grundsätzlichen Aussage, message, des eingestellten Sonetts ändern würde. Egal ob es auf Deutsch oder Türkisch oder Chinesisch oder Latein vorgebracht wird.

Dass auch spirituelle Inhalte oft eine sexuelle (Beziehungs-)Komponente haben, ist eine Binsenweisheit. Über Glaubensfragen und Geschmackssachen streite ich allerdings grundsätzlich nicht, sondern ich stelle lediglich sachlich (unemotional) fest was dieses Sonett sinngemäß aussagt. Ich kann ja nur das kommentieren was ich hier sehe und lese, aber nicht wie ein Autor darüber denkt oder was er dazu „fühlt“ oder was-weiß-ich-was. Jedenfalls traue ich mir keine telepathischen Interpretationen zu.
Ob einem diese Kommunikationsbene gefällt oder nicht … tja , jeder wie er‘s gerne verstehen und haben möchte, wobei ich persönlich niemanden diesen „transzendenten Blackout“ , wie er in diesem Sonett sinngemäß vom lyrischen Ich erbeten wird, wünsche.

lg whizzl

p.s. der Film „Was Sie schon immer über Sex wissen wollten, aber bisher nicht zu fragen wagten“ (1972) beschreibt eine neurotische Einstellung zur Sexualität im Allgemeinen (es ist KEIN Porno!!!, sondern eine satirische, psychosoziale „Studie“ über Vorurteile, Weltanschauungen, usw.). Der Titel wurde eher provokativ gewählt. Der Film ist ein Klassiker und ein Skandal geworden. Und dieses Sonett erinnert mich in der Art seiner kuriosen Aussage an diesen Klassiker des Film-Genres. Wer Genaueres über diesen Film wissen will, kann es bei wikipedia nachlesen. Das ist alles.
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Alt 25.10.2021, 18:39   #8
Falderwald
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Hallo whizzl,

in der deutschen Sprache und Verslehre gibt es (bis auf ganz wenige und spezielle Ausnahmen) weder zwei betonte noch drei unbetonte Silben hintereinander.
Folgen zwei betonte Silben hintereinander, nennt man das einen Hebungsprall.

Beispiel:
Die Nacht ist schwarz, eisig weht der Wind.
xXxX,XxXxX

Drei unbetonte Silben sind mir noch nicht untergekommen. Wenn tatsächlich drei eigentlich unbetonte Silben hintereinander stehen, wird die mittlere beim Sprechen leicht angehoben.

Beispiel:
Herr Müller kleckerte beim Essen
xXxXx(X)xXx
sein Mundtuch hatte er vergessen.
xXxXxXxXx

Im direkten Zusammenhang bleibt das ein 4-hebiger Jambus.
So haben auch die alten klassischen Dichter gereimt.

Siehe hier: --> klick mich

Über die ersten und letzten Zeilen der Quartette in diesem Sonett können wir diskutieren, über alle anderen eigentlich nicht:

Reich mir die Hand in dieser finstern Zeit
xXxXxXxXxX
(alternativ: XxxXxXxXxX)
und hilf mir durch die Dunkelheit zu gehen,
xXxXxXxXxXx
und lass mich meine Endlichkeit verstehen.
xXxXxXxXxXx
Reich mir die Hand, ich bin dafür bereit.
xXxXxXxXxX
(alternativ: XxxXxXxXxX)

Gib mir Geduld, was immer kommen mag,
xXxXxXxXxX
(alternativ: XxxXxXxXxX)
das anzunehmen, was du mir erwählt,
xXxXxXxXxX
es anzunehmen, bis es nicht mehr quält.
xXxXxXxXxX
Gib mir Geduld zu warten auf den Tag.
xXxXxXxXxX
(alternativ: XxxXxXxXxX)

Ich will mich dann an deiner Hand erheben
xXxXxXxXxXx
und nicht von deiner Seite will ich weichen
xXxXxXxXxXx
und freudig werd ich über Meere gehen.
xXxXxXxXxXx

Ich werde mit Geduld als Blinder sehen
xXxXxXxXxXx
und werde helfend meine Hände reichen.
xXxXxXxXxXx
Und freudig will ich deiner Liebe leben.
xXxXxXxXxXx

Aber letztendlich kannst du es drehen und wenden, wie du willst, alle Verse bleiben 5-hebig- Und da ist es egal, ob sie mit einer männlichen oder weiblichen Kadenz enden.

Über Inhalt und Interpretation mag ich außer mit dem Autor nicht diskutieren, da hat jeder seine eigene Sichtweise.
Mir persönlich ist es nur wichtig, ob ich die Intention des Autors getroffen habe oder daneben liege.
Denn die Intention des Autors ist ausschlaggebend, nicht die individuelle Interpretation des Lesers.
Da kann man treffen oder eben nicht.

Liebe Grüße

Falderwald


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Falderwald ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 26.10.2021, 15:03   #9
whizzl
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Hallo falderwald,

na gut, wenn der Versfuß es sagt. Lesen kann ich es ja trotzdem, wie es für mich klingt. Der Unterschied ist vielleicht, dass für mich Rhythmus auch eine Melodie hat und nicht nur ein Schema. Ich komme halt aus der Musik-Ecke. Es kann schon mal passieren, dass ich über einen Groove dichte . Schlagzeug-Schulen sind dafür übrigens sehr geeignet.

Letztendlich läuft Lesen für mich sowieso darauf hinaus, dass ich den Inhalt eines Textes mit eigenen Worten wiedergeben kann. Das Gute dran ist, dass ich nicht so schnell auf Fakes und Ähnliches hereinfalle ; das Schlechte, dass es nicht alle Autoren freut, wenn ihre Texte analysiert werden . Trotzdem bin ich der Meinung, dass es in Zeiten der Digitalsierung immer wichtiger werden wird, dass man Texte nicht nur lesen, sondern auch analysieren kann, eben sachlich und textbezogen auf ihre Aussagen abklopfen.

Du verstehst? Ich unterscheide zwischen einer Textanalyse und einer Textinterpretation. Es wäre doch eigentlich schade, wenn der Sprache und dem Wort die Lebensgeister abhanden kommen und nur noch Seelchen flattern, findest du nicht auch? Nichts gegen Seelchen, aber wo bliebe denn da die Diversität?

lg whizzl

P.S. ich habe nichts gegen Hebeprall, sondern setzte ihn schon hin und wieder krachend und mit voller Absicht ein, natürlich nicht bei Wiegeliedern, weil er dafür einfach zu laut ist.
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