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Alt 13.01.2013, 18:29   #1
Walther
Gelegenheitsdichter
 
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Standard Frank W. - Überblendungen

Frank W. – Überblendungen

Eine Episode*


“When the shit hits the fan!“ nennen Amerikaner die Lage, in der sich Frank W. befindet. Die Welt gerät an jeder Stelle aus den Angeln. Nichts ist in Ordnung, und die Firniss über der rauen Wirklichkeit ist eine erschreckend dünne.

Edith hat ihm, nein, ihrer Ehe, wie sie es nannte, tatsächlich unverhofft eine letzte Chance gegeben. Sie hat dafür nicht weniger als eine Paartherapie eingefordert. Männer und Therapien sind wie Feuer und Wasser, wie zwei von einem jeweils anderen Stern. Frank W. hat intelligent geschwiegen. Das tut er gern, wenn er nicht weiß, was er sagen soll. Und auch dann, wenn er die Angst hat, dass alles, was er sagt, allenfalls falsch verstanden werden kann.

Des Weiteren hat sie ihm mitgeteilt, dass sie die Stelle als Abteilungsleiterin an ihrer Schule angenommen hat. Sie würde also nach der Sommerpause wieder ein volles Deputat übernehmen. Und – drittens und letztens – habe sie bereits den ersten Termin für die Paartherapie ausgemacht. „Es ist der kommende Dienstagabend um 18 Uhr. Bitte habe Verständnis, dass ich eine Verschiebung nicht akzeptiere. Unsere Familie hat jetzt Vorrang!“

Frank W. hat seine Frau von dieser Seite bisher immer nur Dritten gegenüber erlebt: bestimmt, klar, sachlich, neutral. Man könnte sagen: nüchtern, kalt. Nicht in der Form von „gefühlskalt“, eher in der Version „beherrscht und kontrolliert“. Das ist eine deutliche Ansage, denkt er in sich hinein. Und es ist ihm klar, glasklar, dass es kein Entrinnen und keinen Abzweig von dem Weg gibt, den Edith hier vorgegeben hat, wenn er seine Familie zusammenhalten will.

Frank W. ist eine Menge mehr, aber auch ein Mensch, der sich dann in das Unvermeidliche schickt, wenn er es als solches ansieht. Männer ordnen sich generell gerne den Sachzwängen unter, so als ob es keine Gefühlszwänge gäbe, sagt man. Seine Eigenschaft des Jasagens, wenn die Pflicht ruft, tut auch hier ihre guten Dienste. Allerdings hat diese Haltung in diesem beschriebenen Fall ein Teufelshaar. Die Beteiligten an der Geschichte kennen nicht die ganze Wahrheit. Sie entscheiden und verfahren unter dem Eindruck einer Ausgangslage, der nicht das ganze Bild umfasst. Und deshalb werden die Entscheidungen unter unrichtigen Rahmenbedingungen und mit falschen Prämissen gefasst.

Zu Frank W.s weniger guten Eigenschaften gehört, erst etwas zu berichten, wenn er sich sicher ist, es in seiner Gänze durchdrungen und verstanden zu haben. Außerdem hält er sich oft zurück, einer undurchsichtigen Gemengelage eine weitere Komplexität zu geben, indem er den Schwierigkeitsgrad der Problemlösung ohne Not erhöht. Schließlich kann er das Risiko, die Gefahr, die von den aktuellen Entwicklungen an seinem Arbeitsplatz ausgeht, nicht genau abschätzen. Warum also die Hunde wecken, wenn noch nicht zur Jagd geblasen ist?

Edith hasst dieses Aussitzen und temporäre Weglassen, das ist Frank W. durchaus bewusst. Grosso modo hat die neue Herausforderung Ediths ja den positiven Nebeneffekt, dass sein Einkommen nicht mehr so wichtig ist, um Lebensunterhalt und Hausfinanzierung zu gewährleisten. Das entlastet und verbessert den Nachtschlaf. Ein volles Studiendirektorengehalt reicht weit, da im Beamtenbrutto erheblich mehr netto steckt als normalerweise in einem Gehaltsstreifen. Man muss allen Schwierigkeiten eben ihren Charme abgewinnen, das macht die Bearbeitungen ihrer Folgewirkungen einfacher. Frank W. ist hervorragend im Analysieren und Bewältigen von Folgen der Aktionen seiner Umwelt, bei denen er sehr häufig trefflich in Frage stellt, ob die Aktionen sehenden Auges und wachen Verstandes gewesen sind. Aber das Denken ist nun einmal Glücksache, das zeigt die Erfahrung täglich aufs Neue.

Frank W. fügt sich also ins Unumgängliche, selbst wenn er Sinn und Zweck bezweifelt. Das Ziel ist der Weg, sagt er sich. Und das von Edith verfolgte Ziel, ihre gemeinsame Familie zu retten, ist ihm weit mehr als nur ein Herzensanliegen.

Obwohl am Dienstag die Geschäftsleitungskonferenz ist, lässt er sich durch seine Assistentin entschuldigen. Er tut dies im Bewusstsein, dass dort die Vorstellung der neuen Eigentümer vorgesehen ist. Edith erzählt er nichts davon. Sie wird es erst erfahren, wenn alles zu spät ist. Damit erhält er einen Malus, von dem er sich nicht mehr erholen und dessen Fernwirkungen er erst spüren wird, wenn er den direkten Zusammenhang zu diesem Ereignis nicht mehr herstellen kann. Auch er wird später, viel später, erfahren, dass ihm dieses Verhalten als mangelnde Loyalität, als Unfähigkeit ausgelegt werden würde, die Prioritäten richtig zu setzen und – so der falsche, wenn auch folgerichtige Schluss – ein Team auf Abteilungs- oder gar Geschäftsführungsebene zu leiten.

Die Sitzungen nimmt er wahr, lässt sich trefflich ins Gewissen reden und versucht, die Quadratur des Kreises hinzubekommen. Das Schlimme und Tragische ist, dass Solches selbst dem Willigsten, Aufopferungsvollsten auf dieser Erde nicht gelingen kann, wenn die Sterne schlecht stehen. Und diese stehen schlecht, schlechter, als sich alle Auguren ausmalen können.

Bereits im Frühsommer werden die Vorläufer der ersten richtigen Weltwirtschaftskrise seit dem 2. Weltkrieg spürbar. Ab Anfang Mai stürzen die Auftragseingänge ins Nichts und die Stornos der auf der Messe geschriebenen Aufträge ins Unermessliche. Später wird man sagen, dass man eine solche Entwicklung sich nicht habe in seinen kühnsten Träumen vorstellen können.

Frank W. erhält eine Hiobsbotschaft nach der anderen. Im Moment ist die Auslastung bis weit in die 2. Jahreshälfte des Folgejahres gegeben. Danach aber gähnt die absolute Leere. Nicht einmal die Beschaffung von Anbauten und Ersatzteilen, die Renovierung der Maschinen läuft mehr. Alle stehen vor einem Rätsel, und der Vertrieb steht in permanenter Kritik und unter ständiger Beobachtung, wobei die Nachfragen nach Zahlen, überarbeiteten Planungen in immer kürzeren Abschnitten kommen und der Ton der Anforderungen und in der Geschäftsleitung immer gereizter wird. Das nützt es nichts, auf die Branchendaten und die umgebende Konjunktur zu verweisen. Wenn die Zahlen schlecht sind, interessiert nicht die Umwelt in erster Linie. Gefragt ist die Organisation selbst, das Beste aus den gegebenen Möglichkeiten zu machen.

Die Debatte nimmt derartige Formen an, dass Frank W. Edith zum ersten Mal beichten muss, dass die Lage immer bedrohlicher wird. „Auch wenn wir noch fast ein Jahr Arbeit haben, es kommt nichts mehr rein“, sagt er ihr eines Abends beim Wein nach der Sitzung bei der Paartherapie. „Ich weiß nicht, ob wir den vereinbarten Urlaub von drei Wochen halten können. Man übt ungeheuren Druck auf den Vertrieb aus und fordert Aktion, auch wenn das in meinen Augen nur ein Windmachen ist, denn, wo es keinen Auftrag zu holen gibt, da sind Vertriebsgespräche verlorene Zeit und die entstehenden Reisekosten rausgeschmissenes Geld. Seitdem die Eigentümer gewechselt haben, fehlt jedoch für die realistische Einschätzung der Situation leider jedes Verständnis.“

Edith schaut ihn kritisch an und sagt kategorisch: „Über den vereinbarten Urlaub lasse ich nicht mit mir reden. Du brauchst die Zeit zur Erholung, ich brauche sie. Wir alle brauchen sie, um wieder zueinander zu finden!“ Frank W. hat vorher bereits geahnt, dass er diesen Bescheid bekommen würde.

Edith schiebt nach: „Wenn du einen Herzkasper bekommst, ist niemandem geholfen. Das musst du deinen Chefs nur klarmachen.“ Frank W. schluckt eine patzige Antwort runter, von der er weiß, dass sie nichts als eine lautstarke Auseinandersetzung zur Folge gehabt hätte.

Frank W. ist in der Zwickmühle dessen, der weiß, dass es ziemlich egal ist, welche Entscheidung er in diesem Fall trifft, es ist die falsche. Es gibt Situationen, in denen es nachgerade unmöglich ist, das Richtige zu tun, es geht nur darum, das weniger Falsche auszuwählen. Er wählt das zweite Mal die Familie und fällt damit selbst das Urteil über seine berufliche Zukunft. Allerdings ohne das Ziel zu erreichen, weshalb er diese zweite Illoyalität begeht. Das, so wird er später sagen, ist wohl das, was man die Erbsünde nennt. Das ist es wohl, was die Vertreibung aus dem Paradies am besten beschreibt: Du kannst tun, was du willst, es wendet sich nicht zum Guten, obwohl du dich doch wirklich ehrlich bemüht hast, genau das zu erreichen.

* Abschnitt aus einem längeren Text
__________________
Dichtung zu vielen Gelegenheiten -
mit einem leichtem Anflug von melancholischer Ironie gewürzt
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Geändert von Walther (19.01.2013 um 16:16 Uhr)
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