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Alt 01.09.2014, 10:07   #1
AAAAAZ
Wortgespielin
 
Registriert seit: 18.07.2014
Ort: NRW
Beiträge: 664
Standard Tote Leichen

Bunte Blätter pflasterten die Straße,
sie spiegelten der Welten Ungemach.
Auch flatterten sie einfach nur zum Spaße.
Der Blätterregen ließ allmählich nach.

Der Winter kam mit seiner kahlen Stille.
Die Blume blüht aus Eis im Fensterlicht.
Der Mensch dahinter sah der Welten Wille
verschwommen nur, denn er verrannte sich.

Die welke Blume hoffnungsvollen Frühlings
ist schon als Knospe in dem Schaft verblüht.
Das Neue schafft im Grunde auch kein Grünling,
selbst wenn er sich um seinen Durchbruch müht.

Das Leben kam in alter Sommerfrische,
der Wind blättert im grau melierten Buch.
Verregnet sitzt der Herbst schon mit zu Tische,
unangemeldet kam er zu Besuch.

Es ändert sich, doch bleibt es stets das gleiche,
der Wind sing immer noch dasselbe Lied.
Im Buch verschwindet eine tote Leiche.
Die Welt steht still, weil weiter nichts geschieht.
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Alt 06.09.2014, 15:25   #2
Falderwald
Lyrische Emotion
 
Benutzerbild von Falderwald
 
Registriert seit: 07.02.2009
Ort: Inselstadt Ratzeburg
Beiträge: 9.908
Standard

Hallo AZ,

ein Pleonasmus als Titel, das könnte interessant werden, denn von einem Gedicht erhoffe ich mir mehr als stilistisch auffällige rhetorische Mittel, die keinen weiteren Informationsgewinn versprechen.

Wie haben hier zunächst die Jahreszeiten und das Interessante daran ist, dass wir im Herbst starten und enden.
Die ersten vier Strophen beschreiben ihre jeweilige Jahreszeit mit typischen Bildern, die Reihenfolge ist chronologisch.

Gehen wir die mal kurz durch:

S1: Blätter, Blätterregen, es wird langsam ungemütlich, sie wirbeln durch die Straßen, das Herbstbild ist wunderbar.

S2: Auch das Winterbild ist stimmig, doch hier kommt der Mensch ins Spiel und da wird es etwas schwammig. Er verrannte sich?
An dieser Stelle wirft das Fragen auf, doch wir sind ja noch nicht am Ende.

S3: Das Frühlingsbild mit der welken Blume ist sehr lyrisch und bekommt im zweiten Teil einen philosophischen Anstrich.

Da hätte ich übrigens eine Idee, wie man die ersten beiden Zeilen etwas eleganter gestalten könnte, denn der etwas umständliche Genitiv in der ersten Zeile und das sperrige "in dem Schaft" der zweiten schmälern eine wenig das Bild dieser Strophe und nebenbei würde das "s" des Frühlings auch verschwinden:

"Die welke Blume hoffnungsvollen Frühlings
ist schon als Knospe in dem Schaft verblüht."

Der welken Blume hoffnungsvoller Frühling
ist schon im Knospenkleid am Schaft verblüht.

Diese ist zudem mein heimlicher Favorit der Jahreszeitenstrophen.

S4: Die Sommerstrophe behandelt den Sommer selbst nur sehr kurz, denn wie sie selbst aussagt, sitzt hier der Herbst schon mit am Tisch, dafür ist mit dem Begriff "Leben" ein sehr umfassender Umstand beschrieben, der Sommer meines Erachtens hinreichend kennzeichnet.

In Zeile 2 ist die Metrik anfangs ein wenig aus der Reihe:
"Der Wind blättert im grau melierten Buch"
Ich kann "blättert" unmöglich im hier phonetisch verdrehten Sinne eines Jambus "xX" lesen.
An sich finde ich diese Zeile wunderbar, denn dieses grau melierte Buch passt hervorragend ins Gesamtbild und ich wüsste spontan auch keine Lösung, ohne es das "grau meliert" dabei zu verlieren. Da müsstest du selbst noch einmal drüber nachsinnen.

Bisher haben wir einen Pleonasmus und vier stimmige Jahreszeitstrophen. Der Eindruck ist gut, aber es bleiben noch Fragen offen und jetzt muss noch etwas kommen, um mehr als ein philosophisch angehauchtes und beschreibendes Stimmungsbild entstehen zu lassen.

S5: Aha, es geht um einen Kreislauf. Zwar ist die Welt einer stetigen Veränderung unterworfen, doch im Grunde bleibt alles beim Alten.
Ein Mensch stirbt, damit wird sein Körper zur Leiche. Zur "toten Leiche" wird er erst dann, wenn er in dem grau melierten Buch verschwindet, in dem der Wind rastlos blättert. Seite um Seite wird umgeschlagen und so verschwindet alles in diesem Buch.
Wenn das geschieht, ist es wie ein Stillstand der Welt, weil nichts mehr geschieht. Es hat einfach aufgehört zu existieren.
Zumindest diese ganz spezielle und individuelle Welt.
Sonst müsste ich nämlich diesem Stillstand aus philosophischer Sicht widersprechen, denn nichts ist im Stillstand begriffen.
Ausnahme: Das Nichtsein

Fazit:

Wie schon weiter oben erwähnt, ist dieser Text nicht nur ein stimmungsvolles Bild der Jahreszeiten, sondern er beschreibt auch das Phänomen eines ewigen Kreislaufs, dem alles Seiende unterworfen ist.
Wenn der Wind zusammen mit dieser Welt einmal untergeht, dann wird sein Lied auf einer anderen Welt weiter klingen.
Und so ergeht es auch dem Leben an sich. Es wird ein anderes sein, denn die Leichen sind tot, aber sein Lied wird wieder erschallen, da bin ich mir ganz sicher.


Sehr schön. Hat Spaß gemacht, dein Gedicht mal ein wenig analysierend zu betrachten.


Gern gelesen und kommentiert...


Liebe Grüße

Bis bald

Falderwald
__________________


Oh, dass ich große Laster säh', Verbrechen, blutig kolossal, nur diese satte Tugend nicht und zahlungsfähige Moral. (Heinrich Heine)



Falderwald ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 10.09.2014, 09:36   #3
AAAAAZ
Wortgespielin
 
Registriert seit: 18.07.2014
Ort: NRW
Beiträge: 664
Standard

Hallo Falderwald,

danke dir für eine solch intensive Betrachtung des Textes.
Ob wir im ewigen Kreislauf ein retardierendes Moment und letztendlich Stillstand erkennen wollen, oder ewig Neues entdecken, liegt wie immer im Auge des Betrachters. Wir werden es nicht mehr erleben, bis die Suppe des Urknalls ganz zur Ruhe gekommen ist.
Und ewig grüßt das Murmeltier. Wenn es unter Alzheimer leidet, wird es täglich neue Dinge erleben und neue Leute grüßen können. Es muss dazu mit der Erfahrung und Vergangenheit brechen.
Die Menschheit vergisst, vielleicht weil sie vergessen will, sonst könnte sie z.B. aus Kriegen lernen, sonst hätte sich das soziale Miteinander schon längst in ihrer DNA verankert. Erinneren ist Friedenssicherung, um bei dem Beispiel zu bleiben. Wir machen anscheinend ewig den gleichen Mist, und es liegt am Betrachter, den Lerneffekt und die Veränderung insgesamt zu erkennen.
Somit bleibt friedliches Miteinander ein labiler Zustand, der immer wieder aktiv herbeigeführt werden muss. Ein ruhendes stillstehendes Paradies scheint da undenkbar.
Sorry,bin gar nicht auf deine Ausführungen eingestiegen, dem ist aber auch nicht mehr soviel hinzuzufügen. LG AZ
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