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Alt 01.06.2012, 11:29   #1
Thomas
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Reset-Welt kaputt

Klein Jonny hat seine Oma geschlacht'.
Die Oma ging auf Krücken;
er trat sie ihr weg, sie fiel auf den Kopf,
dann stach er ihr in den Rücken.

Das Küchenmesser wurde ihm schwer,
ihm wurde seltsam zumute;
das Loch im Rücken verschwand nicht mehr,
und Oma lag im Blute.

Er hatte es doch nur wie alle gemacht?
Er hatte es oft schon gesehen,
im Comic-Nachrichten-Action-Programm.
Nun kann er die Welt nicht verstehen.

"Oh Jonny! Oh Jonny! Was hast du getan!
Du hast die Oma erstochen!"
Klein Johny sagte: "Sie wird wieder heil."
Kein Wort hat er seither gesprochen.
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Alt 02.06.2012, 12:36   #2
fee
asphaltwaldwesen
 
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Ort: österreich
Beiträge: 961
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huh, thomas,


ein pechschwarzes stückchen bitterböser lyrik. ich gestehe: ganz nach meinem geschmack.

was da in tv-comic-serienverprügelt, verwundet, verstümmelt, in die luft gejagt und gleich danach unbeschadet weitergesprengt und -gekämpft wird (unter dem eingeblendeten gelächter virtueller zuschauer), und vor allem, was daran so lustig sein soll oder "unterhaltsam", wollte noch nie in meinen kopf. interessanterweise finde ich das in so gesellschaftlich auf breiter ebene akzeptierten und beliebten serien wie "tom und jerry" weit heftiger, weil verharmlosender, als in den meist als erstes beschuldigten pc-spielen. DIE kann man als eltern doch weitgehend kontrollieren - so man denn seiner pädagogischen und elterlichen verpflichtung überhaupt nachzukommen gedenkt.

ich beobachte als lehrerin und auch ansatzweise im schulkameradenkreis meines sohnes und dem nachbarlichen umfeld schon einen zusammenhang zwischen dem familiärem "schweigen" bzw. "nebeneinander herleben" (kein wunder, wenn beide elternteile arbeiten gehen und abends selbst müde und gestresst sind, wenn der junior selbst müde und gestresst am späten nachmittag vom hort nachhaus kommt und eigentlich ansprache und nähe bräuchte...), dem druck, dem man als kind heute ausgesetzt ist, und der flucht vor diesem "ignoriert-werden als person" in pc-spiele aber vor allem tv-serien, wo man sich so richtig "wegbeamen" kann aus der realen trostlosigkeit. reizüberflutung ist eben noch das einzige, das durchdringt, wenn man ansonsten gezwungen ist, die realtität möglichst nicht an sich heranzulassen, weil es in dieser selten noch menschlich zugeht.

sich da mit tv-geschichten auseinanderzusetzen, in denen es um dinge geht, die sich erst durch aufmerksamere befassung offenbaren, ist schlicht eine überforderung da, wo der betreffende eigentlich nur noch abschalten möchte. dennoch halte ich die verteufelung solcher tv-serien oder der pc-spiele entsprechender natur nicht für die wurzel solchen übels. eher für einen mitbeteiligten faktor unter mehreren oder auch für ein symptom,
denn andererseits gab es derartiges als phänomen auch schon vor der ära der hektischen tv-kampf-comic-serien. erich kästners schaurige "ballade vom nachahmungstrieb" zeugt davon durchaus eindringlich.

w w w.kultur-netz.de/literat/lyrik/kaestner/nachahm.htm
(bitte, dabei den ton am pc abschalten! ich finde die musikalische interpretation dort eher ...naja).

man sollte also auch genauer hinsehen und fragen, WOHER solche "moralische abwesenheit" rühren kann. es allein auf gewaltverherrlichung zu schieben, ist viel zu einfach.
ich persönlich sehe die ursachen vor allem in der abwesenheit verantwortungsbereiter erwachsener oder erziehungspersonen - einem erwachsenen, dessen aufgabe es eigentlich wäre (so er denn überhaupt noch zeit dazu hätte, sich darauf einzulassen), kindern auch über solche "wahrheiten" in ihrer erlebbaren welt etwas an die hand zu geben, mit dem sie lernen können, damit umzugehen. es zu verarbeiten.

meist wird ja nur ungefiltert wahrgenommen, was (auch viele erwachsene) an gewalt, machtdemonstration, übergriffen und dem nehmen von leben so fasziniert. denn faszinieren kann auch etwas, das einen abstößt und dennoch nicht unbeteiligt lässt. und das thema der "unversehrtheit des menschen", die da plötzlich durch andere grenzüberschreitend nicht mehr garantiert ist, "macht" etwas mit einem. mit kindern - bloß weil sie "noch zu klein sind" - nicht über todesstrafe oder verbrechen zu sprechen, über gewalt, die es nun mal gibt in der welt, wenn es für sie als thema auftaucht, halte ich für völlig falsch. oft wird es aber so praktiziert. den kindern quasi nur die hand vor die augen gehalten und befohlen, wegzuschauen, zu "vergessen" - dann, wenn es schon zu spät ist, weil schon "gesehen". kinder nehmen auf so vielen ebenen mehr wahr. sie damit derart allein zu lassen in falsch verstandenem, abschirmendem "behüten", heißt, ihnen handwerkszeug und orientierungshilfe vorzuenthalten, um derartiges einordnen und bewältigen zu können.

nicht falsch verstehen - ich bin da nicht "militant" gegen kämpfe/gewalt im tv: mein sohn darf bestimmte "kämpfer-tv-comic-serien" ansehen. solche, in denen es dennoch um die werte "gut und böse" geht, um moral, und wo erkennbar fantasy-welten als schauplätze dienen. gottlob gibt es auch einige, wenige solche. da zu unterscheiden, halte ich für ebenso wichtig (wie auch kinder nicht allein vor der glotze zu parken). er fragt auch nach den motiven hinter den aktionen. und DARUM geht es mir. und wir sprechen auch darüber. auch über gewalt im schulhof, wo er - weil pazifist wie seine eltern - sich oft vor das problem gestellt sieht, wo gegenwehr ok ist und in welchem rahmen und wo nicht. und auch ich als mutter stehe grade an diesem punkt angesichts der unüberlegten gewalt unter kindern (aus dem tv abgeguckt und blindlings reproduziert) oft ratlos da. einfach, weil es nicht möglich ist, als einzelner zu bestehen, der in dieser gewaltbereiten maschinerie keinen platz hat und sich ellbogenkämpfen und ähnlichem entziehen möchte...

dein gedicht schneidet für mich also ein riesenthema an, thomas.
umso mehr gefällt mir die beschreibung von klein-johnny nach der tat, die ja eigentlich ein jux hätte sein sollen.
auch, dass du die tv-nachrichten mit reinbringst, die ja von eltern oft nicht als für kinder sehr beängstigend wahrgenommen werden (weil es "ernsthafte information" ist und sozusagen "bildungs-fernsehen"), finde ich großartig. es sind nämlich meist die realen dinge - dann auch noch in vermischung mit den computer-animierten, die ja heute auch so real aussehen als wären sie echt - , die den kindern die größere angst machen. oft können sie gut unterscheiden zwischen gezeichneten trickfilmen und realem film. was aber, wenn das eine mit dem anderen ungefiltert vermischt auf ein kind eindringt, angst macht, aber zugleich dieses wahrnehmen "der steht ja wieder auf, nachdem er in die luft gesprengt/vom pfeil durchbohrt/angeschossen/...wurde"....

mein sohn ist jetzt fast 9 und sieht noch immer keine tv-nachrichten. vor allem, weil ich weiß, wie sehr ihn themen wie "gut und böse" - gibt es das wirklich? - beschäftigen und auch beunruhigen. und zwar schon in dem rahmen, wie es ihm im leben und alltag unterkommt. "warum gibt es menschen, die unseren garten kaputtmachen? wir haben denen doch nichts getan" - genügt m.E. schon als thema, das lange beschäftigt. da muss nicht noch die kriminalität aus den tv-nachrichten dazukommen.

so. und jetzt brems ich mich ein, weil es ein langer kommentar geworden ist und ich leser nicht noch weiter strapazieren möchte. mir war aber wichtig, zu zeigen, welche themen dein text bei mir anstößt - natürlich als doppel-pädagogisch motivierter mensch bin ich bei der problematik noch sensibler... aber ich denke, es ist schon eins DER themen allgemein: die unreflektierte gewaltbereitschaft heutzutage und woher sie ursächlich kommt. und wofür sie SYMPTOM ist.

insofern also "danke für dieses gedicht". auch für die art der präsentation - so ohne zeigefinger und entrüstet-moralischen aufschrei. grade durch das indirekte, leis makaber-humorige, wo einem das grinsem noch in den mundwinkeln gefriert, wirkt es so stark.

"gern gelesen" also.

gruß,

fee
__________________
"Gedichte sind Geschenke an die Aufmerksamen" Paul Celan

Geändert von fee (02.06.2012 um 12:46 Uhr)
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Alt 03.06.2012, 16:19   #3
Thomas
Erfahrener Eiland-Dichter
 
Benutzerbild von Thomas
 
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Beiträge: 3.375
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Liebe fee,

herzlichen Dank für deinen erlösenden Kommentar, der mich nicht nur bestätig, sondern weitere Gesichtspunkte hinzufügt. Das Gedicht ist, wie du festgestellt hast, ein Grenzgänger, und ich war mir gar nicht sicher, ob es recht verstehbar ist, und ob es nicht sogar zu abstoßend wirkt.

Liebe Grüße
Thomas

P.S.: Ich hatte übrigens erst als Opfer (naheliegender) das Schwesterchen vorgesehen, habe dann aber die Oma gewählt, um implizit noch eine Dimension des Problems anzudeuten.
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