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Alt 01.12.2016, 17:44   #3
Erich Kykal
TENEBRAE
 
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Hi Angelika!

Mit reimloser Lyrik kann ich selbst wenig anfangen, das gefällt mir schlicht kaum je. Das liegt aber an mir ...

Hier nun ein gereimtes Werk aus deiner Feder! "Anti-Sonett" vielleicht deshalb genannt, weil sich der Autor der Schwächen bewusst ist, die er (noch) beim Verfassen dieser Form hat?

Gehen wir's durch:

Berlin, mein lieber trauter Heimatort,
wo dräuen Häuserblocks mit vielen Zimmern,


Inversion (verdrehte Satzstellung) kommt nie gut, um zuweilen ist es schlicht sprachlich falsch verwendet, so wie hier. Und die Wortwahl ist zudem unlogisch: Häuserblocks dräuen nicht, sie können dräuend daliegen oder so. Man beachte den Bezug!

wo das TV, in Kellern Mäuse wimmern -

Wenn du für den einen Teil eine Ortsangabe machst (in Kellern), so erwartet der Leser derlei auch für den anderen Teil zu finden. ZB: "wo in den Zimmern das TV, in Kellern Mäuse wimmern. Das erwartet er übrigens, weil es sprachlich korrekt wäre, es so zu formulieren.

drauf geb ich ungeprüft mein Ehrenwort,

Hier wäre ein Punkt besser am Ende der Strophe.

Berlin, die Stadt, bricht jeden Weltrekord,
viel braucht sie nicht, ein Übel zu verschlimmern,
wozu, wenn sich des Staates Ämter kümmern?
So lebt sich’s hin, fast schon ein Breitensport.


Verstopft die City („Allet een Jehetze!“),
man schimpft genervt auf Autos und Gesetze
und schiebt sich frech durch das Verkehrsgewühl.

„Det liebe ick!“, spricht der Berliner groß,
jetzt fühlt er sich wie einst in Mutterns Schoß.
So leicht im Zorn, jedoch mit viel Gefühl.



Ich weiß nicht, wie gut dir die Sonettregeln geläufig sind, und ob du sie bewusst teilweise ignorierst, so wie es eigentlich jeder zeitnahe Dichter tut - auch ich selbst, nebenbei - oder ob du sie noch nicht kennst.

Falls nicht, hier eine Kurzfassung:

Fünfhebige Zeilen mit unbetonten Auftakten (erste Silbe unbetont) und weiblichen Kadenzen (hinten letzte Silbe unbetont).
Zwei Quartette mit umarmenden Reimen: ABBA (und gleichen Reimen in beiden Quartetten nach alten klassischen Regeln).
Zwei Terzette mit zwei oder drei Reimen (die letzten beiden Zeilen des zweiten Terzetts sollen sich nicht direkt reimen). Das Schema kann hier unterschiedlich sein: ABA CBC oder AAB CCB oder ABA CCB oder ABA BAB oder ABA ABA oder ABA BBA oder BAA BBA usw...

Heutzutage schreibt man natürlich auch Sonette mit vier oder sechs Hebern pro Zeile, oder mit betonten Auttakten und männlichen Kadenzen.
Wenn man allerdings gemischte Kadenzen hat (Bloß kein gemischter Auftakt - soviel sollte klar sein!), sollten sie einem klaren Rhythmus folgen, zB: wmmw - wmmw oder (wie du hier) mwwm - mwwm
In den Terzetten wäre dies auch erwünscht, zB dass nur die Mittelzeilen oder nur die Endzeilen der Terzette auf betonten Silben enden: wwm - wwm oder wmw - wmw.

In den Quartetten bist du schön beim rhythmischen Wechsel der Kadenzen geblieben, nur in den Terzetten ist er unregelmäßig: wwm - mmm
Das sorgt für ein leichtes lyrisches Ungleichgewicht. Zu viele männliche Kadenzen machen den lyrischen Fluss zudem hart, und ein Sonett soll ja vornehmlich weich und fließend klingen.


Insgesamt hast du - für einen im Sonettschreiben Ungeübten, wie ich vermute - die Aufgabe aber sehr gut gelöst, und dein Werk hat den Titel "Antisonett" überhaupt nicht verdient, wie ich finde!

Sehr gern gelesen und beklugscheißert!

LG, eKy
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