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Alt 10.05.2011, 19:17   #5
Stimme der Zeit
Erfahrener Eiland-Dichter
 
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Hallo, liebe Chavali,

hab ein bisschen Zeit gebraucht, aber manchmal fordert mich ein Gedicht auf, richtig "hinein zu tauchen", so wie deines hier.

Und wieder geh ich zu dem Brunnen, xXxXxXxXx – 9 – a (Identischer Reim S5,V19
der moosbewachsen drüben liegt, xXxXxXxX – 8 – b (Reiner Reim mit „versiegt“)
zwölf Schritte nur von mir entfernt, xXxXxXxX – 8 – c (Unreiner Reim mit S5, V2+4)
in dem das Wasser nie versiegt. XxxXxXxX – 8 – b (Reiner Reim mit „liegt“)

An seinem Rand gebrochne Steine, xXxXxXxXx – 9 – d (Assonanz zu „leise“)
wie auch mein Leben einst zerbrach, xXxXxXxX – 8 – e
in seinem Innern rauscht es leise xXxXxXxXx – 9 f (Reiner Reim mit „Reise“)
und über ihm ein Blätterdach. XXxXxXxX – 8 - e

Wie oft stand ich an seinem Rand, xXxXxXxX – 8 – g (Alliteration zu „Ruhe“ und „Reise“)
den Blick nach unten tief in ihn, xXxXxXxX – 8 h (Assonanz zu „ihm“)
wo schwarzes Wasser leise singt, xXxXxXxX -8 – i (Reiner Paarreim mit V4)
das mich zum Umkehrdenken zwingt. xXxXxXxX – 8 – i (Reiner Paarreim mit V3)

Und doch, ich finde meine Ruhe xXxXxXxXx -9 – g (Alliteration zu „Reise“)
im fernen Plätschern tief in ihm, xXxXxXxX – 8 k (Identischer Reim S5,V3)
bin angekommen von der Reise, xXxXxXxXx – 9 – f + g(Alliteration zu „Ruhe“, Reiner Reim mit „leise“)
die niemals mehr zu Ende schien. xXxXxXxX -8 – h (Äquivoker Reim mit „ihn“)

Nun bin ich eins mit meinem Brunnen, xXxXxXxXx – 9 – a (Identischer Reim S1,V1)
der moosbewachsen mich nun wärmt, xXxXxXxX – 8 – l (Reiner Reim mit V4)
kein Schritt mehr bin ich fern von ihm, xXxXxXxX – 8 h + k (Assonanz zu „ihn“, Identischer Reim S4,V2))
wo auch kein kaltes Leben lärmt. xXxXxXxX – 8 -l (Reiner Reim mit V2)


Es gibt nur zwei klitzekleine Stellen: „zerbraach“ und „Dach“ in S2 und in S5, V1+V2: 2x „nun“. Darf ich da einen Vorschlag machen? „der moosbewachsen mich erwärmt,“ - nur als Anregung, denn dein Gedicht ist so gut geworden, dass mich dann Kleinigkeiten stören, die ich in anderen Fällen gar nicht registrieren würde …

„Rand“ und „Rand“ finde ich dagegen gut, genauso wie der doppelte „Brunnen“. Als übergreifender identischer Reim unterstützt das die Aussage bzw. den Inhalt. Die Variation mit 9 und 8 Silben und der gelungene Wechsel der männlichen und weiblichen Kadenzen lassen es beim Lesen zu, sofort in den Rhythmus zu finden.

„schwarzes Wasser“; „zum“ „zwingt“; „mit meinem“; „moosbewachsen“ „mich“; „kein“ „kaltes“ ... Ich finde es einfach wunderbar, wie du hier ein Gedicht mit Stilmitteln versiehst – so dass man sie beim einfachen Lesen gar nicht bemerkt, da muss man sich schon Zeit dafür nehmen (was ich in diesem Falle sehr gerne getan habe).

Da könnte ich noch die Vokale in den Endreimen aufführen, oder den Wechsel in einen Paarreim in S3, V3+4, genau in der Mitte des Gedichts, um das „Umkehrdenken“ zu unterstreichen. etc. – Liebe Chavali, das Gedicht ist „reimtechnisch“ super gemacht, deshalb wollte ich das einmal optisch darstellen (mache ich sehr selten). Ganz, ganz großes Kompliment!

Was den Inhalt betrifft, finde ich die Wahl des „moosbewachsenen Brunnens“ gut gewählt. Das erinnert mich an eine japanische Redewendung, wonach man ein Geheimnis nachts in einen Brunnen flüstert, und nur, wenn man ganz alleine ist. Für mich symbolisiert das hier den Ort der „inneren Ruhe“, das Zentrum bzw. den Mittelpunkt im Inneren des LyrIchs. Es findet eine „Einkehr“ statt, die nach einer schweren Zeit („Reise“) im Leben zu neuer Erkenntnis und damit zur Ruhe (meiner Meinung nach könnte man es auch in Richtung „Annahme des Schicksals“ deuten) führt. Die Annäherung wird ersichtlich, wenn zuerst von „zwölf“ Schritten und dann von „keinem Schritt“ die Rede ist. Dieser innere Ort ist immer da, aber das LyrIch muss „hingehen“ um dann den Brunnen zu erreichen.

Ein Hauch von Melancholie und Traurigkeit zieht sich durch das Gedicht, wobei der letzte Vers aber auch als „Rückzug in sich selbst“ betrachtet werden kann. Das LyrIch flüchtet also vor dem „kalten Lärm des Lebens“ in sein Selbst hinein. Was hier dem Gedicht eine beinahe überraschende Wendung gibt, und den Inhalt noch einmal in einem anderen Licht erscheinen lässt.

Mit sehr viel Genuß (und Hochachtung!) gelesen.

Liebe Grüße

Stimme der Zeit

P.S.: Erich Kykal war schneller, sonst hätte ich vielleicht ein paar Aussagen etwas anders formuliert, aber ich lasse es jetzt so, wie es ist.
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