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Alt 15.02.2010, 13:05   #8
Walther
Gelegenheitsdichter
 
Registriert seit: 09.11.2009
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Lb. Chavali,

der Zustand, den ich beschreibe, ist völlig unspezifisch diagnostiziert. Da ich viele Gedichte im Internet lese und kommentiere, habe ich auch selbst einen ordentlichen Ausschnitt zu sehen bekommen. Warum ich das tue, kann man hier nachlesen:http://www.gedichte-eiland.de/showthread.php?t=5175 Dabei gewinnt man, vor allem, wenn man mehrere Foren durchsucht, einen gewissen Überblick.

Zusätzlich beschäftige ich mich noch mit ca. 100 - 150 Gedichten jährlich, die mir im Rahmen meiner Funktion als Lyrikredakteur der Asphaltspuren vor die Augen kommen. Mehr hier: http://www.gedichte-eiland.de/showthread.php?t=5176 Die Gedichte, die dort erscheinen, wähle ich aus und schlage dann der Redaktion vor, welche es in die engere Wahl schaffen, daraus werden dann die gemeinsam herausgepickt, die in die Printausgabe kommen. Nachdem wir die 13. Ausgabe vor uns haben, ist leicht nachzuvollziehen, wieviele Gedichte ich nur für diese Aufgabe in den letzten Jahren gelesen habe. Nimmt man die Lyrikrezensionen hinzu, läßt sich diese Zahl ohne Schwierigkeiten verdreifachen. Ich bin auf die Ziel 1.000 in den letzten 5 Jahren im Durchschnitt gekommen.

Daher weiß ich auch, daß Kunst viel mit "Gefallen" zu tun hat. Was häufig übersehen wird, ist der Aspekt der objektiv nachvollziehbaren Qualität. Wenn sich ein Autor ohne jedes Gefühl für Form und Rhythmus, mit immer den gleichen Sujets, immer den gleichen abgenutzten Versatzstücken bemüht, sich lyrisch zu betätigen, dann ist das keine gute Dichtung, Gefallen hin oder her.

Erich Fried sagt mir natürlich etwas, und nicht nur ich finde, daß er sehr überschätzt wird. Das hat zum Einen mit seinem Herkommen und seiner Biographie zu tun und zum anderen mit der Zeit, der er ebenso geprägt hat wie sie ihn. Er ist sehr politisch gewesen; Betroffenheit, der gerechte Zorn, die aufgestaute Wut sind nicht immer, wenn nicht aus der Distanz mit kühlem Herzen bewältigt und dann erst in Sprache gegossen, gute Ratgeber und eine tragfähige Basis für große Kunst.

Allerdings muß man ehrlich zugeben, daß es von ihm durchaus Werke gibt, die alles andere, was er geschaffen hat, überstrahlen und die richtig große deutschsprachige Lyrik sind. Da er, wie Goethe auch, ein notorischer Vielschreiber war, werden viele seiner Werke sicherlich in Vergessenheit geraten. Es wird aber keine ernstzunehmende Anthologie der deutschen Lyrik nach dem 2. Weltkrieg geben, in der er nicht Platz finden würde.

Natürlich muß man, bei uns Amateur- und Gelegenheitsdichtern besonders, generell bei Lyrikversuchen erst einmal Gnade vor Recht ergehen lassen. Es gibt aber den sich häufenden Umstand, daß gerade die schlechteren unter den Schreiberlingen, ihre Texte mit dem Brustton der Überzeugung, völlig beratungs- und kritikresistent, als höchste Form der Sprachkunst verkaufen. Ebenso behandeln sie jeden Kritik als persönliche Attacke auf sich und fühlen sich eo ipso und per se "unverstanden".

Diese völlige Fehleinschätzung, die damit verbunden ist, keinerlei formale Regeln gegen sich gelten zu lassen, die dichterische Tradition als nicht mehr relevant zu bezeichnen und das Üben als nutzlos zu titulieren, weil Dichter ja bekanntlich vom Himmel fallen, ist eine grassierende Entwicklung. Es versteht sich von selbst, daß bei einer solchen Sicht der Dinge nur die Perpetuierung des eigenen Unvermögens auf unabsehbare Zeit die Folge sein kann. Diese "Maßlosigkeit" ist es, die - neben der Tatsache, daß sich sinn- und qualitätsfrei umbrochene Sprachschnitzel sehr schnell in die Tasten donnern und dann ins Weltweitweb dumpen lassen - diesen gewaltigen Haufen an "Mist" produziert.

Die Bescheidenheit fehlt also weniger beim Kritiker als beim Autor. Das kommt schwer an, ich weiß. Aber um Tatsachen kann man sich auf die Dauer nicht drücken. Und wer seine Augen ein wenig offen hält, sieht genau diesen Zustand sich immer stärker ausbreiten, mit dem Ergebnis, daß irgendwann die Nadel im Heuhaufen keine Chance mehr hat, entdeckt zu werden.

LG W.
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Dichtung zu vielen Gelegenheiten -
mit einem leichtem Anflug von melancholischer Ironie gewürzt
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Geändert von Walther (15.02.2010 um 14:05 Uhr)
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