Thema: Einer von da
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Alt 19.01.2017, 09:42   #1
Kokochanel
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Standard Einer von da

Einer von da

Blicklos stapfte er vor sich hin. Setzte einen Schritt vor den anderen, als wäre er eine Maschine. Seine blau gefrorenen Füße waren mit Sackleinen umhüllt, die Stiefelreste scheuerten an wunden Stellen und machten ihm bei jedem Schritt bewusst, was er war: Ein Sträfling.
Ein Sträfling, der aus dem Lager geflohen war, das man am Ende der Welt für deutsche Soldaten errichtet hatte. Relikt eines Krieges, bei dem es keine Gewinner gab.
Besser von den Wölfen gefressen werden, als so weiter dahin vegetieren, hatte er sich gesagt und war eines Morgens den Wächtern entwischt. Er rechnete die Tage an den Sonnenaufgängen ab, vier waren es bisher, aber irgendwann hatte er aufgehört zu zählen.
Nun sah er dieses Haus vor sich. Ein kleines Steinhaus, aus dessen Schornstein heimeliger Rauch quoll.
Ein Haus, eingeschneit - bis auf die mittleren Etagenfenster eingeschneit. Den niedrigen, windgebeutelten Zaun, der noch über die Schneemassen hinweglugte, galt es zu überwinden. Kinderlachen drang durch die vereisten Scheiben. Nur diesen Zaun noch.
Dann wäre er in einem Zuhause, in solch einem Zuhause, wie auch er es einmal gekannt hatte.
Seine Augen waren vom Schnee ermüdet, der große Baum vor dem Haus ragte ihm wie ein Gespenst aus dem eintönigen Weiß. Er kam ihm bekannt vor – irgendwie. Nur diesen Zaun noch.
Müde hob er das Bein an, das ihm so schwer erschien, als hingen Bleigewichte daran.
Der Schnee glitzerte ihn an, versprühte tausende von Funken in der eiskalten Sonne. Sie formierten sich zu goldenen Sternen in seinem Kopf, tanzten wild, sprühten blendende Fäden, bevor es dunkel um ihn wurde.

Geändert von Kokochanel (19.01.2017 um 10:16 Uhr)
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