Thema: Fremdes Elend
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Alt 15.02.2017, 20:41   #5
Erich Kykal
TENEBRAE
 
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Hi Thomas, Sy!

Nicht der Onkel fragt sich, wie das geschehen konnte - der weiß es ja. Es sind die aus allen Wolken fallenden guten Nachbarn, die jahrelang hätten mitbekommen können, wie das Kind, das sich vor lauter Missachtung und Einsamkeit schließlich einem Täter an den Hals geworfen hat, von seinen Eltern vernachlässigt wurde, wenn sie sich nur hätten überwinden können, richtig hinzusehen.
Aber da heißt es immer: Es geht uns nichts an, das ist Familiensache. Und es ist ja nicht unser Kind ... - Bloß nicht anecken und sich unbeliebt machen! bloß sich keinen Ärger einhandeln - es wird sich schon irgendwer darum kümmern, ehe es zu spät ist ...

Übrigens hilft Kastration oder das Abschneiden des "Schweineschwanzes" (Ich nenne das die Rechtfertigungsrache eines schlechten Volksgewissens) überhaupt nichts: Begehren ist psychologisch motiviert - es sitzt im Kopf!

Das Hinschauen ist wichtig, aber auch das ständige Abwägen, ob man da nicht etwas falsch interpretiert! Leicht ist ein Vorwurf ausgesprochen, leicht ein Ruf ruiniert, leicht ein womöglch unschuldiges Opfer dann dem gnadenlosen Shitstorm und dem Mobbing der Schwarzweiß-Denker ausgeliefert! Das geht bis hin zu Sachbeschädigung, Morddrohungen und tätlichen Angriffen!

Also: Hinschauen ja. Aber dann auch abklären, Gespräch suchen, nachhaken, wenn sich ein eindeutiger Verdacht ergibt. Und dann nur mit den betreffenden Fachleuten reden, nicht mit der ganzen Nachbar- oder Kollegenschaft!

Zuletzt: Auf dem Teppich bleiben. Kindesmissbrauch ist illegal und nicht im Interesse des Kindes und gehört angezeigt und abgestellt - aber ein Gutteil des eigentlichen lebenslänglichen Leides - vorausgesetzt, es kam zu keiner körperlichen Gewalt oder psychischen Einschüchterung und Bedrohung (was für die allermeisten Fälle zutrifft!) - wird großteils dadurch ausgelöst, dass ein Kind "immer das Richtige tun will", und wenn eine Gesellschaft so einen Akt als "besonders widerlich und verwerflich" darstellt (und Kinder kriegen diesen Wertekanon natürlich mit, ob missbraucht oder nicht!), dann wird das "Opfer" hinterher auch ein entsprechend großes schlechtes Gewissen entwickeln und sich selbst verachten, weil es vielleicht mehr oder weniger mitgemacht zu haben glaubt. Das geschieht, eben weil die Gesellschaftsmoral ein derart übersteigert verachtenswertes Bild suggeriert. Dass sie als Opfer ja eigentlich nicht gemeint sind, diesen Unterschied machen Kinder nicht, und auch wenn man sich später als Erwachsener diesen Fakt klar macht - das Unterbewusste schert sich nicht darum!
Deshalb schweigen die meisten dann auch ihr Leben lang - oder werden am Ende gar selbst zu Tätern, wenn der Missbrauch in eine Prägungsphase der kindlichen Entwicklung fiel.

Einen Gutteil des Leids löst die erboste Gesellschaft also überhaupt erst selbst aus, weil sie sich dermaßen darüber echauffiert. Ich will damit sicherlich keinen Missbrauch schön- oder kleinreden, aber im Interesse der Opfer wäre weniger Aufhebens darum - zumindest in der öffentlichen Diskussion und ihren Folgen in den Medien - und weniger Betroffenheitslametta bei den Angehörigen oft besser für die weitere Entwicklung des missbrauchten Kindes. Erst wenn es in SEINEM Kopf zu einer großen und schlimmen Sache aufgeblasen wird, ergeben sich Traumata und Komplexe - und damit erst all das Folgeleid.

Früher verhielt es sich doch ähnlich mit vielen Dingen, die frühere Generationen der Rechtschaffenen "anwiderten": Untreue Ehepartner (in islamischen Ländern wird dafür immer noch hingerichtet - natürlich nur die Frau!), Sex vor der Hochzeit (ganz schlimm, siehe Faustens Gretchen!), Homosexualität (auch dafür gibt es immer noch die Todesstrafe in mehr Ländern, als einer aufgeklärten Menschheit lieb sein kann!) usw...

Wie gesagt, das soll nicht implizieren, auch Sex mit Kindern könnte irgendwann normaler Bestandteil der Gesellschaft sein - eben weil das Kind unmündig, unwissend und unerfahren ist und nicht weiß, worauf es sich einlässt. Es hat weder die geistige noch die emotionale Reife, noch das moralische Rüstzeug für die Verarbeitung solch eines Geschehens, und es muss zwangsläufig seelische Schäden davontragen - und die Täter wissen das auch, weil sie selbst Kinder waren, egal, wie sehr sie es verdrängen oder vor sich selbst ableugnen. Wer kein Soziopath ist, trifft eine klare und überlegte Gewissensentscheidung, wenn er sich anschickt, ein Kind zu verführen, weil der Trieb dazu in ihm stärker ist als Empathie und Vernunft. SEINE Tat ist verwerflich, nicht die des Kindes. Aber weil jeder beim Thema sofort angewidert das Gesicht verzieht und triefend vor Verachtung nach drakonischsten Folterstrafen für die Täter brüllt - auch vor seinen Kindern - wird es für die Opfer (die sich durchaus als Beteiligte zu den Mittätern zählen) ebenfalls zu einer moralischen Unerträglichkeit, und jeder "normale" gesellschaftliche Kontakt wird sie später daran erinnern, dass sie einst Teil solch einer "Widerlichkeit" waren und sich zutiefst schämen! Schlimmer noch: Jeder dann "erlaubte" Sex wird sie an ihre zu frühe Lust oder zumindest ihr Einvernehmen mit dem Missbraucher erinnern - und sie in unerträgliche Selbstverachtung stürzen!

Kurz gesagt: Würden wir als Gesellschaft nicht so heftig und angewidert reagieren, wäre das Leid der zu früh Verführten weit nicht so groß! Wäre die Brandmarkung nicht gar so gewaltig, die Opfer hätten es früher wie später leichter, über ihre Erlebnisse zu sprechen und die Täter anzuzeigen. Die Dunkelziffer und die Bereitschaft der Täter, das Risiko einzugehen, wären weit nicht so groß.

Verhindern, ganz ausrotten wird man dieses Delikt niemals können. Aufklärung ist wichtig - aber diese ganze überkandidelte Betroffenheitsemotionalität, die das Thema zur Zeit auslöst, ist letztlich kontraproduktiv.

Nochmals und wohlgemerkt: Es geht um den gemeinen Wald- und Wiesenmissbrauch, meist innerfamiliär, bei dem es nicht zu physischer Gewalt kommt, wo das Kind den Täter kennt und mag - oder sogar liebt, zuweilen auch hinterher! Schlimm genug! - Handelt es sich um Kindesentführung mit gewaltsamem Missbrauch oder Sexualmord - dann sind offenes Angewidertsein und ausgesprochene Verachtung durchaus angebracht!

Uff - so weit haben mich meine Gedanken wieder mal geführt - und mancher wird nicht damit einverstanden sein, und mancher wird es falsch interpretieren. Der Teppich, auf dem man bleiben soll, ist eben für jeden anders gewebt ...

So oder so eben ein heikles Thema.


Hi Koko!

Dein Beitrag kam, während ich diesen schrieb. Du differenzierst schon stärker, denkst wertneutraler über die Beziehungsmechanismen nach - das gefällt mir. Aber du sicherst dich - wie ich im obigen Kommi - auch gleich gegen jene ab, die immer sofort lautstark und völlig gedankenfrei undifferenziert losbrüllen, wenn es um dieses Thema geht, weil du diesen Effekt schon kennst, so wie ich.
Wenn so mit emotionalisierter Betroffenheitslametta gewunken wird, ist kaum eine objektive Diskussion möglich. Wer nicht mitbrüllt, ist gleich FÜR Sex mit Kindern oder am besten gleich einer von denen, die es tun, vor allem, wenn es sich um einen Kerl handelt!


LG, eKy
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Geändert von Erich Kykal (08.07.2017 um 11:22 Uhr)
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