Thema: Schmerz
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Alt 01.09.2012, 18:57   #2
Falderwald
Lyrische Emotion
 
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Hallo Chatwanda,

ja, der Schmerz gehört zum Leben und zählt ganz sicherlich zu den Leiden desselben, mal abgesehen davon, daß er als Sinneswahrnehmung auch eine warnende Funktion inne hat.
Bei einem chronisch Schmerz verliert er diese Funktion allerdings und kann zu einem eigenen Krankheitsbild werden oder eben zu einer Begleiterscheinung einer anderen (schweren) Krankheit.

Auf der anderen Seite gibt es auch noch den psychischen Schmerz, auf dessen vielfältige Ursachen ich hier nicht näher eingehen möchte, sondern den ich nur zum Verständnis des vorliegenden Gedichtes, neben dem physischen Schmerz, im Sinne einer zweiten Interpretationsebene für erwähnenswert halte.

Der Protagonist in diesem Text scheint schon lange einem Dauerschmerz ausgesetzt zu sein, denn er bezeichnet ihn als treuen Wegbegleiter.
Er ist ständig zugegen, bei Tag und Nacht, lässt ihn kaum in Ruhe und nagt geduldig an ihm.
Selten allerdings lässt er auch schon einmal los und beschert weniger schmerzhafte oder gar schmerzfreie Momente.
Sehr gut gefällt mir hier in diesem Zusammenhang die Metapher "Zerteilt er mir das Leben in Pralinen" - ein eindrucksvolles Bild.

Dieser Morgen allerdings ist eine solche Praline. Er lässt endlich einmal wieder los, bzw. lockert seinen Griff, denn sein "Brüllen" wird zu einem "Summen", aber wohl nur um sich in der Pause wieder zu erholen, um anschließend wieder in voller Konsequenz auszubrechen.
Auch hier gefällt mir die Metapher "Erhebt mein Glas erneut", um zu zeigen, auf wessen Kosten er sich wieder einmal zu profilieren gedenkt.

Metrik und Reime sind in Ordnung. Die acht Verse sind im fünfhebigen Jambus mit weiblichen Kadenzen konsequent ausgeführt und die vierfache Reimwiederholung stört bei diesem kurzen Gedicht auch nicht weiter. Wäre es länger würde es dadurch langatmiger, zumindest in der Sprachmelodie.
Somit gibt es keine weitere Kritik an den formalen Dingen.

Inhaltlich geht der Text auch in Ordnung, denn die Aussagen sind klar strukturiert, stringent und folgen dem roten Faden des Themas und werden dem Titel gerecht.
Auch hier wäre weitere Kritik nicht angebracht.

Zum Schluss noch etwas zum allgemeinen Verständnis, denn eine konstruktive Kritik sollte auch vermeintliche Schwachstellen aufzeigen.

Das Gedicht endet mit den Worten "sich ganz zu schienen."

Im ersten Moment dachte ich, es sei eine unglückliche Formulierung, denn etwas zu "schienen" setzt ja voraus, das vorher ein Bruch erfolgt wäre, von dem ja hier überhaupt nicht die Rede war.

Doch dann dachte ich an (Eisenbahn)Schienen und übersetzte es mit eine Strecke (be)schienen und damit als eine Art Wegbereiter für den sich stärkenden Schmerz, was mir schon besser gefiel.

Als beste Lösung allerdings erscheint mir, wenn wir das Verb "schienen" in der alten Bedeutung übersetzen, nämlich "eine Rüstung anlegen".
Der Schmerz rüstet sich also erneut.

Und an dieser Stelle erlaube ich mir eine kleine Veränderung vorzuschlagen, weil ich finde, daß sie auch zum besseren Verständnis des Fazits beitragen könnte.

Ich würde das unbestimmte Adjektiv "ganz" durch das bestimmte "neu" ersetzen. Dadurch wäre eine zweite kleine Veränderung notwendig, denn wir haben hier ja schon das "neu" in "erneut".
Daher:

"Erhebt mein Glas zum Gruß, sich neu zu schienen.

Natürlich ist die Aussage "zum Gruß" austauschbar, aber ich finde, es hat was, wenn der alte Reiter hier dem Protagonisten mit dem eigenen Glase auch noch zuprostet. Das würde die ganze Aussage m. E. noch verstärken.

Soweit meine Gedanken zu einem ordentlichen Einstandsgedicht.

Wann führst du uns auf den Friedhof, um anschließend im Dorfkrug herbe Witze darüber zu reißen?


Gerne gelesen und kommentiert...


Liebe Grüße

Bis bald

Falderwald
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Oh, dass ich große Laster säh', Verbrechen, blutig kolossal, nur diese satte Tugend nicht und zahlungsfähige Moral. (Heinrich Heine)



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