Thema: Die Gegenwart
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Alt 11.06.2017, 10:09   #2
Erich Kykal
TENEBRAE
 
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Hi Schneefrau!

Hiermit stimme ich weder inhaltlich noch formal überein.

Formal dahingehend, dass dies keine Lyrik ist, sondern bestenfalls ein Kalendersinnspruch oder eine Aussage zur Diskussionsanregung.

Inhaltlich, weil die hier getroffene Aussage eigentlich auf die oberflächliche Dummheit und/oder Gedankenlosigkeit des Sprechenden hinweist, der die gesamte Gegenwart, in der er existiert, zugleich als wichtig bezwichnet wie als unwichtig verwirft.

So ein "Nie-ganz-bei-sich-selbst-Sein" weist auf schwere Persönlichkeitsprobleme hin: Man ergreift die Flucht vor sich selbst, lebt in romantisierter Vergangenheit oder überschwänglich begeistert ausgemalter Zukunft - nur um nie wirklich bei dem ankommen zu müssen, was man selber tatsächlich ist oder darzustellen glaubt.

Das hat Joda bereits am jungen Luke Skywalker kritsiert ("Das Imperium schlägt zurück"), dass er immer anderwo wäre im Kopf, nie bei sich oder dem, was ihn umgäbe - darum versage er auch im Erlernen der Macht.
Das mag Scy-Fi sein, aber es verdeutlicht das Problem, das solche Gegenwartsverdränger grundsätzlich haben: Sie scheuen die wahrhaftige Auseinandersetzung mit einen vielleicht ungeliebten, aus welchen Gründen auch immer allzu mickrig oder negativ empfundenen Selbst, das in ihrer Gegenwart lauert.

Diesbezüglich konterkariert der Sprechende sich ja auch selbst, indem er zu Beginn sagt, die Gegenwart "sei so wichtig". Es klingt aber wie eine einstudierte Phrase, vor allem, da er mit dem Ende ja exakt das Gegenteil behauptet, indem er die Gegenwart unwichtig nennt.
Das Denken dieses Menschen hat also mit logischer Stringenz oder Selbstanalyse reichlich wenig zu tun.

Die Frage ist nun für den Leser, ob du als Autor hier selbst sprichst oder aber ein in sich selbst indifferentes Ego entwirfst, ein LyrIch, das seine Probleme auf so augenfällig verbal ungeschickte Weise offenbart. Ein grundsätzliches Problem bei "Ich"-Sätzen: Der Leser weiß nie genau zu sagen, ob Autor oder erdachtes LyrIch sprechen.

Von daher verkneife ich mir ein abschließendes Urteil bezüglich des Inhalts. Bezüglich der Form aber bleibt es eindeutig: Diese Form ist keine Lyrik!

LG, eKy
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