Liebe Claudi, lieber Falderwald,
ich möchte bei dieser Gelegenheit meine Meinung zu dem Thema sagen, welche sich von dem Unterscheidet, was man meistens hört. Daber trotzdem:
Das Lyrisch Ich ist eine leere Begriffs-Maske, die beim Reden über Poesie wie ein Symbol benutzt wird. Da Poesie auf Metaphern und nicht auf Symbolen beruht, ist dieser Begriff überflüssig. Geradezu paradoxe Züge nimmt die Diskussion an, wenn behauptet wird, der Dichter schöpfe "alles aus sich selbst" und dann im Werk immer nur das "Lyrische Ich" zu finden ist, welches mit ihm selbst angeblich gar nichts zu tun hat.
Warum spricht man in der Musik nicht "Musikalischen Ich"? Die durch die Komposition vermittelten und offenbarten Emotionen sind genauso direkt wie in der Poesie, aber ihre Inhalte sind abstrakt. In der Poesie sind die Inhalte durch die verwendeten Worte zwangsläufig konkret, Liebe, Hass, Mord, Aufopferung und Tod. Aber muss denn der Dichter nur deswegen ein Mörder sein, weil er über Mord schreibt. War Schiller ein Kindsmörder, weil er das Gedicht "Die Kindsmörderin" schrieb? War Goethe Faust oder Mephisto? Natürlich nicht. Natürlich doch! Denn der Inhalt ist in der Poesie Nebensache, die Form, die Emotionale Gestalt, ist fast alles, und diese Emotionen erzeugende Form entspring natürlich ganz allein dem Poeten, genau wie die musikalische Form der Komposition. Darin sehen wir sein Innerstes, darin zeigt er uns seine Seele. Deswegen ist es so wichtig, dass Dichter schöne Seelen haben, die sich anzusehen lohnt.
Ich überlasse das Gerede vom Lyrischen Ich denen, die gerne Symbole mit wirklichen Metaphern verwechseln, d.h. keine Ahnung von Poesie haben, denen, die Gerne über Inhalte sprechen, und Angst haben, dem Dichter zu nahe zu treten. Jeder wirkliche Dichter lacht darüber, wenn er mit den von ihm verwendeten Inhalten gleichgesetzt wird und fragt: Wo ist das Problem? Bezüglich der Form liegt die Sache hingegen anders, und das sollte man sehr vorsichtig und höflich, ja liebevoll mit den Dichtern umgehen.
Liebe Grüße
Thomas