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Alt 15.12.2012, 12:35   #6
Antigone
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Standard Problem des Blickwinkels?

Liebe Fee,

ich glaube, ich sollte an diesem Gedicht nicht vorbeigehen, nicht deshalb, weil es poetisch oder thematisch gut geraten wäre, sondern weil es auf die politische Dichtung abzielt, ihre Verächtlichmachung, ihre angebliche Existenz als Nicht-Lyrik.

Deiner Ansicht nach gehört also Politik nicht zum Leben, und Dichtung soll deiner Ansicht nach nur Persönliches zum Thema haben. Das sei angeblich schon immer so gewesen, behauptet Falderwald, und ich nehme an, diese Äußerung stimmt im Tenor mit deinen Ansichten überein. Ich bin nicht über dein lyriktheoretisches Gerüst informiert, und gestatte mir deshalb, dass ich dich - ohne dich belehren zu wollen! - darauf hinweise, dass jede Dichtung immer auch politisch ist, auch dann, wenn sie sich nicht zur Politik äußert und scheinbar ganz im Persönlichen bleibt. Denn Politik ist nichts anderes als die Organisation der menschlichen Gesellschaft, die Idee, nach der sie funktioniert bzw. nicht funktioniert, sie äußert sich immer vom Eingeordnetsein und also aus der Sichtweise der Beteiligten. Jeder Mensch ist in diese Gesellschaft eingebunden, er kann sich ihr nicht entziehen, die Politik der Gesellschaft zu allen Zeiten greift bis ins Allerpersönlichste, selbst dann, wenn man "nur" Beziehungen der Menschen oder einen harmlosen Ahornbaum bedichtet. Du kennst sicher auch das Wort: Wenn du dich nicht für die Politik interessierst, wird sich die Politik für dich interessieren.

Das politische Gedicht hat eine Tradition, die bis in die Entstehung von Dichtung greift. Sie ist ein nicht nur anerkanntes, sondern legitimes Genre der Lyrik. Schon Walther von der Vogelweide schrieb politische Gedichte. Aber man kann noch weiter zurückgehen, vielleicht bis zu Sophokles, Euripides, zu den Komödiendichtern des klassischen Altertums - auch hier ist jedes Wort Reaktion auf die Politik dieser Zeit. Selbst das Gilgamesch-Epos
ist politisch. Der Unterschied zwischen damals und heute besteht nur darin, dass diese Menschheitsepochen vergangen sind und für uns Heutige das Hochpolitische der Texte nur noch schwer erkennbar ist. Was anderes ist die "Medea" des Euripides als Ausdruck der Politik Athens zu dieser Zeit?

Das Ethos des Schriftstellers, will er ernst genommen werden, verlangt geradezu, zu seiner Zeit Stellung zu nehmen, denn auch er ist ein von der Politik betroffener Zeitgenosse, er nimmt genauso Anteil am gesellschaftlichen Leben wie jeder Mensch. Gibt es also irgendeine Begründung dafür, dass er in seinen Werken an seiner Zeit sprachlos vorübergehen sollte, seine Zeit nicht zum Thema machen sollte? Selbst die Romantiker haben sich politisch geäußert, indem sie sich unter den Metternich-Gesetzen gegenwartspolitisch nicht geäußert haben, sondern in die anscheinend romantische Ritter-und-Burgen-Zeit bzw. in die Natur auswichen, was schon zur damaligen Zeit als Weltflucht bezeichnet wurde. Auch das ist Politik, das wirst du zugeben müssen.

Ich will die ganze Phalanx der großen politischen Lyriker von Heine bis Brecht nicht anführen, diese Dichter dürften dir bekannt sein. Es dürfte dir auch bekannt sein, dass gerade sie in den herrschenden reaktionären Kreisen auf Ablehnung stießen, was bis zum gesellschaftlichen Ruin hätte führen können, in Brechts Fall bis zum Mord, wären sie diesem Deutschland nicht entflohen. Ich erinnere an den Hickhack um Erich Frieds politische Gedichte. Politische Lyrik hat es erfahrungsgemäß schwer innerhalb der stark bildungsbürgerlich belasteten Gesellschaftskreise, die sich gewöhnlich anscheinend aus politischen Bewegungen ihrer Zeit herauszuhalten versuchen. Der wahre Beweggrund für dieses Heraushaltenwollen ist unverfälschte Angst, behaupte ich. Dein Standpunkt ist überhaupt nicht neu in der Geschichte der Literatur, sondern es ist zudem der alte, hochfahrende Standpunkt derjenigen, die glauben, nur sie würden die einzig gültige Literatur machen und alles, was dem nicht entspreche, sei also weder Literatur noch opportun.

Es ist hier nicht die Stelle, weitere Ausführungen über Sinn und Zweck von Lyrik zu machen. Es gibt zu politischer Lyrik eine vielfältige theoretische Literatur, man muss sie nur lesen, um den Stellenwert politischer Lyrik überhaupt erst einmal einordnen zu können. Falls du dich wirklich für dieses Thema interessieren solltest, wirst du auch danach greifen.

Lieben Gruß
Antigone

Geändert von Antigone (15.12.2012 um 12:39 Uhr)
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