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Alt 07.09.2011, 19:24   #5
Stimme der Zeit
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Hallo, Odiumediae,

willkommen auf Gedichte-Eiland.

Für mich erzählt dieses Sonett eine "Geschichte auf zwei Ebenen"; zum einen kann ich es als die unmittelbare Geschichte eines tatsächlichen Weinstocks und zum anderen als ein menschlichens Erleben verstehen.

Die Gegenwart wird durch die ersten beiden Verse dargestellt. Danach folgt ein Rückblick in die Vergangenheit, als der Weinstock (der Mensch) noch jung war. Dabei sehe ich "grüne" Reben vor mir, die noch voller Kraft zur Sonne emporstreben, im Wunsch (vielleicht auch im Glauben), dass nur das Firnament die Grenze ist und alles erreicht werden kann.

Im zweiten Quartett findet sich erneut die Gegenwart. Was erlebte der Weinstock, damit ihm "alles Leben" fehlt? Was ließ ihn erkranken? Emotional sehr stark (und sehr schön als Reim) wirken "Trauerflor" und "Grabdekor", die sich auch in ihrer Bedeutung ergänzen. "Fäulnis und Verwesung" - das ist schon beinahe "heftig". Demnach ist der Weinstock bereits "tot". Offenbar wurden alle Träume "begraben" und mit ihnen wohl auch die Hoffnung ...

Ob meine Interpretation zutrifft, kann ich nicht sagen, aber ich glaube, hier ist das "feinste Vlies aus grauem Nebel" als Metapher für das Nachlassen der kognitiven Fähigkeiten gemeint. Wenn das bislang Erlittene zum "innerlichen Sterben" führte, kann der Verlust der Erinnerung durchaus eine Art "Erlösung" sein. "Tief hinab ins Tal, bis zum See" bedeutet m. E. nach "bis in die tiefsten Tiefen des Ichs".

Der "Winter" umhüllt dann mit dem "Sarkophag aus Schnee", worin ich das Alter und den Tod sehe. Alles wird "zugedeckt".

Der "Frühling", den du in "Bruder" umbenannt hast, versinnbildlicht die "Nachkommenden"; Kinder, vielleicht auch Enkelkinder. Sie "finden", was der Verstorbene hinterlassen hat. Die Terzette beschreiben den Übergang in die Zukunft, denke ich.

Wenn ich den Titel in Bezug zum Inhalt setze, scheint mir der Wein(stock) bereits vor dem tatsächlichen Tod "erfroren" zu sein.

Etwas möchte ich anmerken, allerdings nicht unbedingt als Kritik im eigentlichen Sinn: Die Jugend, die "gegenwärtige" Präsenz und die Zukunft. In diesem Sinne ist es stimmig. Aber mir "fehlt" hier irgendwie etwas. Der Weinstock ist krank, blickt auf die Jugend zurück, in der er stark und gesund war. Dann kehrt er erneut in die Gegenwart zurück, um bereits krank zu sein, zu verfaulen und zu sterben. Was mir hier fehlt, ist das "Warum?", wenn du verstehst, was ich meine ...

Der Inhalt ist chronologisch einwandfrei, aber ich finde den "gefühlten Zugang" nur schwer, da ich mir beim Lesen nicht erklären kann, was sich ereignet hat, um zu Krankheit und Tod zu führen. Es fiele mir leichter, wenn es der kurzen Schilderung der Jugend entsprechend einen "Hinweis" gäbe, was sich "in der Zwischenzeit" ereignet hat bzw. eine "Empfindung" angedeutet wird. Ein Beispiel: Wenn jemand krank ist, habe ich natürlich Mitgefühl. Aber wenn mir mitgeteilt wird, es sei eine bestimmte, vielleicht sehr schlimme Krankheit, dann "vertieft" sich das unter Umständen beträchtlich. Mein emotionaler Bezug intensiviert sich. Das ist allerdings nur mein persönliches Gefühl!

Ganz kurz noch zu Quartett 2, Vers 3: damit wird xX betont, ein kleiner "Lapsus". Als Lösung könnte ich "deshalb", "demnach", "folglich" oder auch "ergo" anbieten.

Dein Sonett gefällt mir sehr gut, besonders auch das Reimschema in den Terzetten. Der Himmel "umarmt" den Nebel und den Winter gemeinsam mit dem Frühling. Wirklich schön.

Ich persönlich finde, der "Frühling" ist besser, "Bruder" sagt mir weniger zu. Aber das ist reine "Geschmackssache", denn den inhaltlichen Zusammenhang fand ich in beiden Varianten ohne Probleme.

Da ich noch nicht sehr lange "dichterisch" tätig bin, hoffe ich, dass ich im Sinne von Rhetorik und Sprache von dir lernen kann und auch, dass du eventuelle Fehler und Irrtümer meinerseits korrigierst. Es würde mich freuen.

Sehr gerne gelesen und kommentiert.

Liebe Grüße

Stimme
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