Thema: Das Pendel
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Alt 05.08.2011, 14:53   #2
Stimme der Zeit
Erfahrener Eiland-Dichter
 
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Hallo, G.Heimer,

ich melde mich gerne noch mal und versuche, es dir anschaulicher zu erklären. In deinem Gedicht geht es um das "Pendel". Ein Pendel "schwingt" hin und her.

Es gibt Möglichkeiten, beispielsweise auch die Versanfänge "mitschwingen" zu lassen. Ich versuche mal, es an einem kurzen Vierzeiler (bitte den nicht zu "gewichtig" sehen, das ist eine 2-Minuten-Improvisation) zu demonstrieren.

Am Morgen geht die Sonne auf,
am Abend wieder unter.
Ganz parallel zum Lebenslauf,
mal müde und mal munter.

xXxXxXxX
xXxXxXx
xXxXxXxX
xXxXxXx

Morgen-Abend / auf-unter / am-am
parallel / Lebenslauf / mal müde-mal munter

Am-ma(l) - annähernd "umgekehrt". Auch das ist dann eine "Verstärkung" von "auf und ab" - wie bei einem "Pendel".

Hier beginnen alle Verse am Anfang mit einem einsilbigen Wort:

am
am
Ganz - an "klingt" nicht gleich, das ist ein "Assonanzreim", wo sich der Vokal "reimt", nicht aber die Konsonanten*
mal
* eigentlich ein "unreiner" Reim, wenn er sich als Endreim (am Versende) befände

Wie du siehst, als "Aufzählung" geht es auch. Bewusste Wiederholungen haben einen "Effekt", den man - gewollt - "steuern" kann, so dass es trotzdem nicht "eintönig" wirkt.

Wie könnten Versanfänge also "pendeln"? So wäre es möglich:

Jeden Morgen geht die Sonne auf
und jeden Abend wieder unter.
Parallel zu unsrem Lebenslauf,
mal sind wir müde und mal munter.

XxXxXxXxX
xXxXxXxXx
XxXxXxXxX
xXxXxXxXx

Hier wechseln die Versanfänge: Betont-unbetont-betont-unbetont. Der 1. Vers endet mit einer betonten Silbe, also kann der 2. Vers unbetont beginnen. Der 2. Vers endet unbetont, der 3. beginnt dann wieder betont; der 3. Vers endet betont, der 4. Vers kann unbetont beginnen - und die Strophe, die mit einer betonten Silbe begann endet als ganzes mit einer unbetonten Silbe.

Hintereinander geschrieben sieht das so aus:

XxXxXxXxXxXxXxXxXxXxXxXxXxXxXxXxXxXx

Jeden Morgen geht die Sonne auf und jeden Abend wieder unter. Parallel zu unsrem Lebenslauf, mal sind wir de und mal munter.


Das ergibt einen Rhythmus, untermalt von einem "Takt". Wenn dieses "Betonungsmuster" stringent (durchgehend) eingehalten wird, kann man auch die Betonungen sehr stimmig variieren - was sehr schön "pendelt".

Ein einsilbiges Wort hat, wie der Name sagt, nur eine Silbe: die, auf, und, zu, mal etc.
Ein zweisilbges zwei: Abend, Morgen, Sonne, unter, de etc.
Dreisilbig drei: Parallel etc.
Viersilbig, Fünfsilbig usw. Ich habe Worte ab 2 Silben (bis zum "offenen Ende, wie viele Silben) unter dem Begriff "Mehrsilber" zusammengefasst. Das meinte ich damit.

Zitat:
Aus anderen Korrekturen habe ich entnommen, die Worte abzuwechseln und Wiederholungen zu meiden. Die Auswahl an Variationen ist begrenzt oder mein Wortschatz? Alles in einem…? Das traue ich mich nicht. Mehrsilber…, wieder eine Wissenslücke! Ist mir nicht ganz klar!???
Ach, lieber Günter, mir wurde auch schon so manches gesagt ...
Wiederholungen sind zu meiden - außer, man verwendet sie ganz bewusst als Stilmittel, das auf den Inhalt abgestimmt ist! Diese Unterscheidung ist wichtig. Schau, wenn du z. B. ein Gedicht schreiben möchtest, das, sagen wir mal, auch im Sinne einer Aufzählung "daher kommen" soll - nun, dann sollte man auch "aufzählen".

Wenn ein Gedicht aber im anderen Fall sehr viel "verschiedene" Aussagen enthält, dann sollte entsprechend "variiert" werden - dann passt gewissermaßen die "Form" zum "Inhalt". Man kann auf diese Art ganz erstaunliche Effekte erzielen, die den Inhalt noch "unterstreichen".

Ich meinte mit meinen Ausführungen nicht, dass dein "Wortschatz begrenzt" ist.

"Bedrohung" und "Verrohung" sind Endreime - ich meinte die Versanfänge, bzw. den Versbeginn (das erste Wort in einem Vers).

Zitat:
Bei langen Gedichten habe ich auch bei den Meistern Brüche entdeckt und für mich als Entschuldigung gesehen. Ich habe etwas gelernt und hoffe, es in mein lyrisches Unterbewusstsein aufzunehmen.
Wenn man das "Handwerk" wirklich beherrscht, hat man, so wie die "Meister", damit auch die "Freiheit", eine bestimmte Stelle - ganz bewusst! - dem "Sinn bzw. Inhalt" unterzuordnen. "Künstlerische Freiheit" bedeutet: Wenn du es "richtig" kannst, dann darfst du es auch "mit Absicht" falsch machen, ansonsten ist es ein Fehler.
Und die "Meister" wussten mit Sicherheit, was sie taten ...

Ich hoffe, ich konnte dir erklären, was ich meinte. Das soll nur eine Anregung sein, wie schön Form und Inhalt miteinander "interagieren" (zusammenarbeiten) können. Wenn man so etwas lernen möchte, eröffnen sich ganz ungeahnte (vielfältige und schöne) Möglichkeiten, ein Gedicht zu "gestalten".

Liebe Grüße

Stimme
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