Die entschleierte Göttin
Die entschleierte Göttin
Verschleiert blieb die Göttin; selbst den Priestern
erschien sie nie entblößt von Angesicht
zu Angesicht. Die priesen in Gesängen
der Gottheit Prachtgewand, dass die Gemeinde
die Wahrheit ihrer Schönheit ahnen konnte,
doch waren sehend sie nur blinde Diener.
Ein Jüngling, dessen Herz in Liebe brannte,
der demutsvoll zu ihren Füßen flehte,
ihm ihre Wahrheit ganz zu offenbaren,
und täglich seine Bitte wiederholte,
erweichte sie. Der Schleier sank zu Boden
und sonnengleich erschien ihm reine Wahrheit.
Geblendet war der Jüngling, tanzte, sang
und sprach in Zungen, die sie nicht verstanden.
Er sah durch die entlehrten Augenhöhlen
die Schönheit der Gedanken im Entstehen
und fernste Sterne, die im Werden sind,
sah alles, was wir Sehenden nicht wissen.
Den Grund dafür, warum er sein Gesicht
fortan verschleierte, verriet er nicht.
© Ralf Schauerhammer
P.S.: Ein Gegenstück zu Friedrich Schillers "Das verschleierte Bild zu Sais"
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© Ralf Schauerhammer
Alles, was der Dichter uns geben kann, ist seine Individualität. Diese seine Individualität so sehr als möglich zu veredeln, ist sein erstes und wichtigstes Geschäft. Friedrich Schiller
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