Liebe Koko und Fee, lieber Erich,
es freut mich sehr, dass ihr euch dies Frage interessiert und ihr euch äußert. Mir ist gerade noch eine weitere Stimme untergekommen, die ich euch zitieren möchte. Hier ist sie:
Wie ich in der Musik hören und empfinden, in den bildenden Künsten schauen und empfinden will, so will ich in der Poesie, wo möglich, alles Drei zugleich.
Von einem Kunstwerk will ich, wie vom Leben, unmittelbar und nicht erst durch die Vermittlung des Denkens berührt werden; am vollendetsten erscheint mir daher das Gedicht, dessen Wirkung zunächst eine sinnliche ist, aus der sich dann die geistige von selbst ergibt, wie aus der Blüte die Frucht. – Der bedeutendste Gedankengehalt aber, und sei er in den wohlgebautesten Versen eingeschlossen, hat in der Poesie keine Berechtigung und wird als toter Schatz am Wege liegen bleiben, wenn er nicht zuvor durch das Gemüt und die Phantasie des Dichters seinen Weg genommen und dort Wärme und Farbe und wo möglich körperliche Gestalt gewonnen hat. – An solchen toten Schätzen sind wir überreich.
Die Lyrik insbesondere anlangend, so ist nach meiner Kenntnis unserer Literatur, die Kunst "zu sagen, was ich leide", nur Wenigen, und selbst den Meistern nur in seltenen Augenblicken gegeben. Der Grund ist leicht erkennbar.
Nicht allein, dass die Forderung, den Gehalt in knappe und zutreffende Worte auszuprägen, hier besonders scharf hervortritt, da bei dem geringen Umfange schon ein falscher oder pulsloser Ausdruck die Wirkung des Ganzen zerstören kann; diese Worte müssen auch durch die "rhythmische" Bewegung und die Klangfarbe des Verses gleichsam in Musik gesetzt und solcherweise wieder in die Empfindung aufgelöst sein, aus der sie entsprungen sind; in seiner Wirkung soll das lyrische Gedicht dem Leser – man gestatte den Ausdruck – zugleich eine Offenbarung und Erlösung, oder mindestens eine Genugtuung gewähren, die er sich selbst nicht hätte geben können, sei es nun, dass es unsere Anschauung und Empfindung in ungeahnter Weise erweitert und in die Tiefe führt, oder, was halb bewusst in Duft und Dämmer in uns lag, in überraschender Klarheit erscheinen lässt.
Heine sagt sehr richtig: "Ein Lied ist das Kriterium der Ursprünglichkeit." Die meisten unserer sogenannten Dichter aber sind ihrem eigentlichen Wesen nach Rhetoriker mit mehr oder minder poetischem Anstrich und der lyrischen Kunst so gut wie ganz unmächtig. –
Theodor Storm, Husum, 7. Juni 1870. Aus dem Vorwort seines "Hausbuch aus deutschen Dichtern seit Claudius".
Vielleicht müssen wir mit unseren Zeitgenossen etwas gnädiger umgehen, wenn wir erkennen, dass das Problem nicht neu ist. Ich finde die Charakterisierung "Rhetoriker mit poetischem Anstrich" so treffend, dass es mich fast wurmt, nicht selbst darauf gekommen zu sein. Sehr schön finde ich auch: "Diese Worte müssen auch durch die 'rhythmische' Bewegung und die Klangfarbe des Verses gleichsam in Musik gesetzt und solcherweise wieder in die Empfindung aufgelöst sein, aus der sie entsprungen sind", es ist genau das, was ich versuche auszudrücken, wenn ich sage Lyrik müsse "sangbar" sein.
Liebe Grüße
Thomas
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© Ralf Schauerhammer
Alles, was der Dichter uns geben kann, ist seine Individualität. Diese seine Individualität so sehr als möglich zu veredeln, ist sein erstes und wichtigstes Geschäft. Friedrich Schiller
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