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norbert 01.05.2009 00:02

Das alte Fotoalbum
 
Das alte Fotoalbum

Wie farblos in Papier gepresste Blüten
seh ich Gespenster der Vergangenheit.
Für meine Zeit fixiert, eh sie verglühten,
Ertrunkene im Meer der deutschen Zeit.

Seh Lippen, die das Lächeln schon verloren,
eh noch ein Lachen je den Mund verließ,
als hätten Ernst und Trauer sich verschworen,
weil ihre deutsche Zeit kein Glück verhieß.

Ihr wart das graue Fleisch, aus dem ich stamme,
das meine Seele trägt seit Anbeginn.
Das graue deutsche Fleisch, das ich verdamme,
das Fleisch, in dem ich selbst gefangen bin.

Erich Kykal 01.05.2009 15:40

Hi, norbert!

S1Z4: "...im Meer der deutschen Zeit."

Wow! Ein Glanzstück, wenn du mir die Bemerkung gestattest! Vom fast träumerisch lyrischen Einstieg, der schon Gespenstisches erahnen läßt, bis hin zur sauber hingeknallten Conclusio, die der Kritik am "Deutschtum" die besserwisserische Spitze nimmt, weil du dich selbst mit in die Gleichung stellst. Wunderbar! Sehr gelungen! Chapeau!

Man hört nachgerade das Knistern der Albumseiten, wenn umgeblättert wird, hat die verblichenen, grauen und altersgebräunten Fotos vor Augen, die Geschichten aus alter Zeit erzählen wollen, obwohl kaum einer sie noch versteht, weil sich die Welt so sehr gewandelt hat.
Sehr gut bringst du auch die politischen oder gesellschaftlichen Implikationen herüber, die Schatten dunkler Vergangenheit, der wir nie entkommen werden, weil irgendetwas in unseren aufgeklärten Seelen dennoch am Konzept der Erbsünde zu kleben scheint. Wie punktgenau im sachten Anklingenlassen!
Das ist Gesellschaftskritik in höchster Vollendung: die Vergangenheit zitieren, um Gegenwärtiges zu hinterfragen, zu kritisieren, aber ohne den moralischen Zeigefinger allzu bewußt und nervtötend auf die immer noch blutende Wunde zu legen. Wie gesagt, meine Reverenz und Hochachtung zu diesem Gedicht!

LG, eKy

Dana 02.05.2009 00:25

Lieber norbert,
ich habe länger gebraucht, mich an einen Kommentar zu wagen.
Kann es sein, dass allein durch das Bekenntnis "deutsch" schon eine Hemmung eintritt? Wenn es so wäre, fände ich es verheerend und erlaube es mir nicht.
Vielleicht habe ich anfangs zu "oberflächlich" gelesen. Du wirst mich hoffentlich eines Besseren belehren. Ich werde gebannt zuhören.


Zitat:

Zitat von norbert (Beitrag 12756)
Das alte Fotoalbum

Wie farblos in Papier gepresste Blüten
seh ich Gespenster der Vergangenheit.
Für meine Zeit fixiert, eh sie verglühten,
Ertrunkene im Meer der deutschen Zeit.

Die Sprache ist stark und die entstehenden Bilder viel deutlicher als jene im alten Fotoalbum. Ich wollte zuerst ein "Familienalbum sehen, doch nun denke ich, dass dein lyr.Ich einen Bildband betrachtet.

Seh Lippen, die das Lächeln schon verloren,
eh noch ein Lachen je den Mund verließ,
als hätten Ernst und Trauer sich verschworen,
weil ihre deutsche Zeit kein Glück verhieß.

Bilder aus Zeiten, die noch vor der bitteren Zeit liegen. Weil damalige Fotos stets gestellt und in "ordentlicher" Haltung gemacht wurden, wirken diese auf das lyr. Ich wie eine geschichtliche Vorahnung.

Ihr wart das graue Fleisch, aus dem ich stamme,
das meine Seele trägt seit Anbeginn.
Das graue deutsche Fleisch, das ich verdamme,
das Fleisch, in dem ich selbst gefangen bin.

Hier eine Erkenntnis oder ein Geständnis. Nicht als Vorwurf oder gar Anklage. Die Seele trägt das Deutschtum seit Anbeginn, also weit, weit vor der Zeit, die zu verdammen wert ist.
Das lyr. Ich sieht sich gefangen. Würde es in einer neuen "Freiheit" weniger verdammen, weil diese Zeit nicht das gesamte Deutschtum ausmacht?
Ich hinterfrage mehr, als dass ich interpretiere.
Probleme, Unrecht, Verbrechen sollen hinterfragt, verarbeitet werden. Das gilt für jede Freundschaft, für die Ehe und für alles Zwischenmenschliche.
Warum fehlt es daran den Deutschen? Ist Selbsbezichtigung über Generationen ein deutsches Problem?
Und wieder zwingen mich die Finger per Tastatur zu erklären, dass ich nichts beschönigen will, obwohl das mehr als klar sein sollte.
Warum?

Dein Gedicht ist zu aufwühlend, zu gut um mit ein paar Sätzen kommentiert zu werden.

Liebe Grüße
Dana


norbert 02.05.2009 22:37

http://img4.imageshack.us/img4/3408/ahnensw.jpg...ich weiß nicht,ob es eine GENETISCHE veranlagung in diesem sinne gibt - mglw. - aber es gibt etwas, was wir mit diesen gespenstern gemeinsam haben: die sprache. ich glaube, es gibt eine mischung von sehr tiefem denken, anstrengend-preußischem idealismus, "tiefsinn und einfalt", die fehlende leichtigkeit der "welschen", die in der deutschen sprache enthalten sind...ich habe die spur noch nicht ganz zu ende verfolgt...
liebe grüße
deutschbert

Leier 03.05.2009 01:24

Lieber Leidbert,

selbstverständlich tragen wir die Schuld unserer vorgängigen Schuldigen auf unseren Schultern.
Zumindest ich sehe das so, obwohl ich gerade nur knapp noch der "Gnade der späten Geburt" teilhaftig wurde.

In Deinem Gedicht ist nicht ein Funke Hoffnung enthalten, obwohl gerade der so wünschenswert wäre.
Immerhin wird unser Grundgesetz jetzt 60 Jahre alt - ist das nicht wert, den Tag zu loben? Es bleiben vage Zweifel ob der Aufweichung.

Unsere Fotoalben zeigen seltsame Naivität und Unbefangenheit (nach 1933).
Ab 1939 Deutliches.

Dennoch fühle und denke ich wie Du:
Alpträume Nacht für Nacht.

Schrecklich. Nicht zu bannen.
Gerade d i es zeigt mir Dein Gedicht.
Für das man danken muß.


Lieben Gruß
von
cyparis

norbert 04.05.2009 22:03

liebe cyparis,
es geht mir um nichts, was mit "offizieller geschichtsschreibung" zu tun hat, der einzelne hat mit dem wesentlichen ohnehin nichts zu tun, er bekommt nur ein paar einlullende begriffe übergestülpt...
"gnade der späten geburt" is auch so ein kunstbegriff, der eigentlich nicht wirklich wesentlich ist.
die freudlosikkeit der auf den albumfotos gezeigten gesichter (mein längst verstorbener vater hatte die fotos gesammelt, sir reichen bis ins 19. jhdt. zurück!) ist ziemlich durchgängig - ich zumindest sehe keine "entspannung" oder "lebensfreude" in ihnen.
es ändert sich tatsächlich erst bei den fotos der nachkriegszeit, aber wenn ich die dort abgebildeten, die ich ja kenne (bzw. gekannt habe) mit ihrer erscheinung heute vergleiche - die kindliche lockerheit und gelöstheit hat doch erheblich nachgelassen...
liebe grüße
albumbert

Klatschmohn 04.05.2009 22:34

Lieber Norbert,
ich dachte, dass das Bild eine Zeichnung aus Deiner Hand sei!
Vielleicht liegt das aber auch an der Fototechnik der frühen Jahre, das hat manchmal ganz schön lang gedauert und vielleicht haben sie auch gedacht, dass man dann ernst gucken soll.
Andererseits gab es wohl auch nicht viel zu lachen: Moral, Anstand, Würde, viel Arbeit, ein kurzes Leben und weiß der Geier was.
Auch wenn unsere Zeiten verrückt sind, so sind sie doch freier als früher. Das begrüße ich sehr.
Liebe und herzliche Grüße,
Klatschmohn

Chavali 05.05.2009 11:11

Lieber Norbert,

dein Text ist handwerklich gut gemacht, sauberer Kreuzreim, durchgängig jambische Auftakte.

Das Bild dazu macht erst noch deutlicher, was dein Text beschreibt.
Auf politische Hintergründe mag ich nicht eingehen, das ist nicht so mein Ding.

Ich spüre nur, dass mich dein Gedicht berührt.

Lieben Gruß,
Chavali

norbert 05.05.2009 20:40

du hast richtig gedacht, liebe heidi, es ist ein ölbild auf holz, das ich von einem foto abgemalt habe.
ob die zeiten heute wirklich freier sind, wage ich zu bezweifeln, sicherlich sind sie materiell sicherer und es gibt mehr unterhaltung und ablenkung.

auch @chavali:
politik spielt immer mit den stimmungen im volk, stülpt den ereignissen irgendwelche ideologischen gebilde über.

liebe grüße
norbert

Medusa 24.05.2009 13:13

Lieber Norbert,

ja, ich stimme Dir zu: Fotoalben durchzublättern ist eine harte Arbeit und macht nicht unbedingt froh angesichts der verkniffenen Lippen und der blicklosen Blicke.

Andererseits sollten wir Leichtigkeit pflegen und uns nicht über jedes Haar in der Suppe grämen. Was bringt es? NICHTS! Was nützt es, sich ständig Gedanken um das Für und Wider zu machen? Auch nichts!

Ganz sicher dürfen wir die Wirklichkeit nicht verniedlichen! Aber ein paar Mauselöcher für unbeschwerte Stunden sollten wir uns offen halten, stimmts?

Ein wundervolles Gedicht und ein tolles Gemälde!
Herzliche Sonntagsgrüße,
Medusa.


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