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Sidgrani 25.01.2015 08:21

Die Unsterbliche
 

Die Zeit weiß nichts von dir und mir,
sie kennt kein Heute und kein Morgen.
Sie ist stets da und doch nicht hier
und nie bereit, sich uns zu borgen.

Sie ist nicht alt und auch nicht jung,
und kommt nie ohne ihre Schwestern.
Die eine heißt Erinnerung,
sie weilt gern in dem Heim von gestern.

Die andre treibt die Neugier fort,
sie muss die Segel täglich hissen.
Die Zukunft sieht das Zauberwort,
doch lässt sie es uns niemals wissen.

Ein Vetter wandert mit der Zeit
und sammelt die verblühten Leben.
Ihn kümmern weder Freud noch Leid,
er kann nur nehmen, niemals geben.

Wer weiß, wie lang die Kerze brennt
und wann wir durch den Vorhang schreiten,
in eine Welt, die niemand kennt,
in unbekannte neue Weiten.

Im Stundenglas verrinnt die Zeit
wie feiner Sand durch unsre Hände.
Der eine kommt damit sehr weit,
für andre ist es schnell zu Ende.



Alte Version

Die Zeit weiß nichts von dir und mir,
sie kennt kein heute und kein morgen.
Sie ist stets da und doch nicht hier
und nie bereit, sich uns zu borgen.

Sie ist nicht alt und auch nicht jung,
ganz anders als die beiden Schwestern.
Die eine heißt Erinnerung,
gefangen in dem Reich von gestern.

Die andere, die sucht das Licht,
will täglich neu die Segel hissen,
zum Horizont zeigt ihr Gesicht,
die Zukunft möchte niemand missen.

Ein Vetter reist stets mit der Zeit
und sammelt die verblühten Leben.
Ihn kümmern weder Freud noch Leid,
er kann nur nehmen, niemals geben.

Die Stunden, die der Tag uns gibt,
sind nicht wie Geld zu übertragen.
Drum handle, wer sein Dasein liebt -
wer leben will, der muss auch wagen.


Chavali 25.01.2015 15:44

Lieber Sid,

dein Text zum Thema Zeit gefällt mir.
Für meine Begriffe könntest du sogar zwei Gedichte daraus machen - ich hätte nach Strophe 3 schon geendet.

Fast kommt es mir vor, als würdest zu in den letzten beiden Strophen ein anderes Thema behandeln, zwar auch Zeit,
aber aus einem anderen Blickwinkel, du verstehst? :confused:

Aufgabe erfüllt (übererfüllt ;))!

Was mir rechtschreibmäßig allerdings auffiel:
Müsste nicht in Strophe 1 in Zeile 2
Zitat:

sie kennt kein heute und kein morgen.
heute und morgen nicht groß geschrieben werden, da substantiviert?
Ich denke, ja.


Lieben Gruß,
Chavali

Nachteule 29.01.2015 01:34

Hallo Sidgrani,

wir haben wohl unterschiedliche Vorstellungen von der Zeit. :D
Dass Heute und Morgen groß geschrieben werden müssen, glaube ich auch.
Aber ist die Zeit nicht genau heute? ;) Anders gesagt ist sie immer, aber darum ist sie heute und morgen. Und natürlich ist sie jung und alt.

Warum die Zukunft das Licht sucht, würde mich auch interessieren...
Dazu kommt die Frage, wer der Vetter ist. Das ergibt sich mir nicht wirklich. Zwar reißt das Heute immer mit der Zeit, aber warum wäre der dann männlich, während die anderen beiden weiblich sind?

nächtlicher Gruß, gutes nächtle und carpe noctem
Nachteule

Falderwald 02.02.2015 12:46

Moin Sid,

mir gefällt dieser Text sehr gut, er klingt gereift und ausgewogen.

Auch stimme ich mit ihm darüber ein, dass die Zeit selbst kein Heute und kein Morgen kennt und darüberhinaus auch kein Gestern, weil sie nämlich alles zugleich darstellt, das ist ihre eigentliche Natur.

Ich glaube sogar, dass verschiedene Zeitlinien parallel nebeneinander existieren. Das macht die Zeit aus, denn wir als wahrnehmende Wesen befinden uns ja immer in dieser Zeit und zwar in einer eigenen (eigentlich nicht vorhandenen) Gegenwart.
D.h., wir sind lediglich Beobachter von einer dieser Zeitlinien aus.
Jeder schon verstorbene und künftig lebende Mensch existiert immmer noch bzw. schon auf seiner Zeitlinie.

Man könnte sich vielleicht vorstellen, als ein außerhalb der Zeit stehender Beobachter Zeit und Raum zu betrachten.
Da gäbe es unendlich viele Zeitlinien, die immer noch existent sind und alles seinen Platz (im Raum dieser Zeitlinie) einnimmt.

Das alles ist selbstverständlich nur rein spekulativ. ;)

Die beiden Schwestern in deinem Text sind natürlich nur bestimmte Eigenschaften bewusster Wesen.
Erinnerungen und die Hoffnung auf die Zukunft können nur im komplexen Hirn eines bewussten Lebewesens existieren.

Im Gegensatz zum Vetter, den ich als den Tod interpertiere.
Er nimmt das Leben und gibt nichts, außer dem Tod eben (den man aber auch als Erlösung von allem Leid und Übel, die das Leben mit sich bringt, betrachten könnte, wenn man es postiv sieht ;)).

Die letzte Strophe ist als Conclusio überzeugend.
Zwar können sich einige reiche Geldsäcke durchaus ein paar Stunden Lebenszeit erkaufen, aber die Ewigkeit ist ihnen glücklicherweise auch verschlossen, bzw. können sie diese auch nur wie alle anderen mit ihrem Ableben erfahren.

Deshalb sollte man das Leben auch wagen, denn es heißt ja nicht umsonst: Qui non audet, non vincit...;)


In diesem Sinne gern gelesen und kommentiert...:)


Liebe Grüße

Bis bald

Falderwald



Sidgrani 18.04.2015 14:35

Liebe Chavali,

danke für deinen Hinweis zur Groß-/Kleinschreibung, ich habe ihn nicht ignoriert, auch wenn es lange so aussah.
Tatsächlich hätte ich das Gedicht kürzer halten können, aber jetzt lasse ich es so.

Liebe Nachteule,

die Zeit ist überall und nirgendwo, die Erinnerung ist vergangene Zeit und die Zukunft eben zukünftige Zeit. Der mit ihr reisende Vetter braucht sie, weil auf der Zeitschiene die verschiedenen Ereignisse, auch der Todeszeitpunkt, eines jeden Lebewesens liegen. Falderwald hat den Vetter bei seinem Namen genannt.

Lieber Falderwald,

deine Betrachtungen zur Zeit sind sehr interessant, die Zeit ist eigentlich nicht zu begreifen, weil sie sich laufend verändert und jeder sie wahrscheinlich auf seine Weise versteht.


Ich danke euch für eure Gedanken und Kommentare.
Liebe Grüße
Sid


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