Gedichte-Eiland

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-   -   Ein sachliches Anti-Sonett (http://www.gedichte-eiland.de/showthread.php?t=16152)

Angelika 01.12.2016 05:26

Ein sachliches Anti-Sonett
 
Berlin, mein lieber trauter Heimatort,
wo dräuen Häuserblocks mit vielen Zimmern,
wo das TV, in Kellern Mäuse wimmern -
drauf geb ich ungeprüft mein Ehrenwort,

Berlin, die Stadt, bricht jeden Weltrekord,
viel braucht sie nicht, ein Übel zu verschlimmern,
wozu, wenn sich des Staates Ämter kümmern?
So lebt sich’s hin, fast schon ein Breitensport.

Verstopft die City („Allet een Jehetze!“),
man schimpft genervt auf Autos und Gesetze
und schiebt sich frech durch das Verkehrsgewühl.

„Det liebe ick!“, spricht der Berliner groß,
jetzt fühlt er sich wie einst in Mutterns Schoß.
So leicht im Zorn, jedoch mit viel Gefühl.

Walther 01.12.2016 17:36

Lb Angelika,

das ist zwar keine satire, aber ein absolut gelungenes sonett, das ich sehr gerne gelesen habe - als in Berlin geborener sowieso.

mehr davon bitte!

lg W.

Erich Kykal 01.12.2016 17:44

Hi Angelika!

Mit reimloser Lyrik kann ich selbst wenig anfangen, das gefällt mir schlicht kaum je. Das liegt aber an mir ...

Hier nun ein gereimtes Werk aus deiner Feder! "Anti-Sonett" vielleicht deshalb genannt, weil sich der Autor der Schwächen bewusst ist, die er (noch) beim Verfassen dieser Form hat? ;):Kuss

Gehen wir's durch:

Berlin, mein lieber trauter Heimatort,
wo dräuen Häuserblocks mit vielen Zimmern,


Inversion (verdrehte Satzstellung) kommt nie gut, um zuweilen ist es schlicht sprachlich falsch verwendet, so wie hier. Und die Wortwahl ist zudem unlogisch: Häuserblocks dräuen nicht, sie können dräuend daliegen oder so. Man beachte den Bezug!

wo das TV, in Kellern Mäuse wimmern -

Wenn du für den einen Teil eine Ortsangabe machst (in Kellern), so erwartet der Leser derlei auch für den anderen Teil zu finden. ZB: "wo in den Zimmern das TV, in Kellern Mäuse wimmern. Das erwartet er übrigens, weil es sprachlich korrekt wäre, es so zu formulieren. ;)

drauf geb ich ungeprüft mein Ehrenwort,

Hier wäre ein Punkt besser am Ende der Strophe.

Berlin, die Stadt, bricht jeden Weltrekord,
viel braucht sie nicht, ein Übel zu verschlimmern,
wozu, wenn sich des Staates Ämter kümmern?
So lebt sich’s hin, fast schon ein Breitensport.


Verstopft die City („Allet een Jehetze!“),
man schimpft genervt auf Autos und Gesetze
und schiebt sich frech durch das Verkehrsgewühl.

„Det liebe ick!“, spricht der Berliner groß,
jetzt fühlt er sich wie einst in Mutterns Schoß.
So leicht im Zorn, jedoch mit viel Gefühl.



Ich weiß nicht, wie gut dir die Sonettregeln geläufig sind, und ob du sie bewusst teilweise ignorierst, so wie es eigentlich jeder zeitnahe Dichter tut - auch ich selbst, nebenbei - oder ob du sie noch nicht kennst.

Falls nicht, hier eine Kurzfassung:

Fünfhebige Zeilen mit unbetonten Auftakten (erste Silbe unbetont) und weiblichen Kadenzen (hinten letzte Silbe unbetont).
Zwei Quartette mit umarmenden Reimen: ABBA (und gleichen Reimen in beiden Quartetten nach alten klassischen Regeln).
Zwei Terzette mit zwei oder drei Reimen (die letzten beiden Zeilen des zweiten Terzetts sollen sich nicht direkt reimen). Das Schema kann hier unterschiedlich sein: ABA CBC oder AAB CCB oder ABA CCB oder ABA BAB oder ABA ABA oder ABA BBA oder BAA BBA usw...

Heutzutage schreibt man natürlich auch Sonette mit vier oder sechs Hebern pro Zeile, oder mit betonten Auttakten und männlichen Kadenzen.
Wenn man allerdings gemischte Kadenzen hat (Bloß kein gemischter Auftakt - soviel sollte klar sein!), sollten sie einem klaren Rhythmus folgen, zB: wmmw - wmmw oder (wie du hier) mwwm - mwwm
In den Terzetten wäre dies auch erwünscht, zB dass nur die Mittelzeilen oder nur die Endzeilen der Terzette auf betonten Silben enden: wwm - wwm oder wmw - wmw.

In den Quartetten bist du schön beim rhythmischen Wechsel der Kadenzen geblieben, nur in den Terzetten ist er unregelmäßig: wwm - mmm
Das sorgt für ein leichtes lyrisches Ungleichgewicht. Zu viele männliche Kadenzen machen den lyrischen Fluss zudem hart, und ein Sonett soll ja vornehmlich weich und fließend klingen.


Insgesamt hast du - für einen im Sonettschreiben Ungeübten, wie ich vermute - die Aufgabe aber sehr gut gelöst, und dein Werk hat den Titel "Antisonett" überhaupt nicht verdient, wie ich finde! :)

Sehr gern gelesen und beklugscheißert! ;)

LG, eKy

Angelika 02.12.2016 05:52

Hi Erich Kykal,

danke für die ausführliche Betrachtung meines kläglichen Machwerkes, das zu Recht jede Kritik verdient. Nein, es ist nicht mein erstes Sonett, allerdings mein erstes Anti-Sonett, und ich will es dir nicht verhehlen, die Sonetterei finde ich leicht nervend. Zumal sie sprachlich sehr oft eine Pseudo-Gehobenheit vorführt, die eine klare Aussage verschwiemelt, weil die Autoren sich stilistisch oft als Epigonen des 19. Jahrhunderts bemühen, als wir noch den Kaiser hatten, es allerdings nie erreichen. Wie gesagt, das Sonett bei mir nur im Ausnahmefall, wenn es tatsächlich um "höhere Werte" geht. Dann aber mit klarer, verständlicher Sprache, dass auch ein Nichtlyriker versteht, worum es geht. Und für ihn schreibt man ja, oder? Aber es ist ein Anti-Sonett, wie der Titel verspricht, womit ich meine Abneigung gegen die inflationäre Sonetterei ausdrücken wollte, und ich sehe, die Botschaft ist angekommen.

Die Inversion ist keinesfalls nur negativ zu betrachten, im Gegenteil, wie ich sie gebraucht habe, ist sie akzeptabel. Es ist ein Hilfsmittel für den Lyriker, um bestimmte Wörter oder Satzteile durch ihre Stellung innerhalb des Satzteils hervorzuheben und damit besonders zu betonen.

Danke noch mal, Erich Kykal, für die Mühe, dieses unsägliche Erzeugnis durch die Mühlen deiner Wissenschaft zu jagen.

Angelika

Kokochanel 02.12.2016 10:21

Guten Morgen, Angelika,

da du Sonette nicht magst, erübrigen sich weitere Anmerkungen zum Format.
Im Übrigen schließe ich mich Erichs diesbezüglichen Ausführungen an, ebenso wie deiner eigenen Einschätzung eines "kläglichen Machwerks".

Der Schluß ist zudem wieder unlogisch:
warum sollte er sich wie in Mutters Schoß fühlen, wenn er zornig ist? Im Mutterschoß fühlen sich die Kinder geborgen im Gegensatz zu dem negativen Bild der Stadt, das hier gezeichnet wird.

LG von Koko

Angelika 02.12.2016 12:37

Hallo Kokochanel,

ja, ich kenn das schon - was einmal eingerastet ist, sitzt fest, da ist man dann für Neues, was eigentlich gar nicht neu ist, sondern nur dem Empfänger der Mitteilung neu, nicht aufgeschlossen. Zumal dann, wenn man sich bestimmte Kenntnisse nur angeeignet hat. Da grassieren dann in den Foren die seltsamsten Aussprüche, wie zum Beispiel, man solle keine Inversionen einsetzen, das wäre schlechter Stil. Ich kenne von solchen Äußerungen eine ganze Menge, die aber alle in Annahmen einzelner ihre Grundlage haben, nicht jedoch in der nachweislich lyrischen Technik.

Aber zur Conclusio: Natürlich ärgert es den Berliner, wenn er nicht über die Piste rasen kann, aber er hat sich an so vieles gewöhnt, dass er sich über das Déjà-vu überhaupt nicht mehr ärgern kann, sondern sich freut, dass sich seine Voraussicht bestätigt hat. Nebenbeigesagt ist die Formulierung "wie in Mutterns Schoß" eine Berliner Redewendung, die natürlich, wie könnte es anders sein, Protest und Liebe zugleich einschließt. Man muss eben nicht nur lesen, was in Buchstaben ausgedrückt wird, sondern auch das zwischen den Zeilen, um eine Aussage ganz zu verstehen. So gesehen ist dieses Anti-Sonett auch eine Liebeserklärung an Berlin. Denn der Berliner meint es nie so ganz eindeutig, und meist sogar das Gegenteil, von dem er spricht.
Daran musst du dich bei mir gewöhnen. In meinem Alter und wenn man seit Geburt in Berlin gelebt hat, stellt man sich nicht mehr um, jedenfalls nicht, was die Berliner Natur angeht. Wenn du wissen willst, wie der Berliner denkt, dann ist immer noch Tucholsky eine Quelle.

Alles klar? Danke, dass du dich über den Text gebeugt hast.

Angelika

Kokochanel 02.12.2016 14:11

wenn du nur für Berliner schreibst, dann musst du das dazuschreiben, Angelika.

Im allgemeinen Sprachgebrauch ist "Mutterns Schoß" ausschließlich positiv besetzt.
Wenn ein Gedicht gut sein soll, dann muss es sich den Anforderungen der allgemeinen Sprache beugen, es sei denn, es wäre ein Mundart -Gedicht.
Außerdem gibt es DEN Berliner nicht, DEN Münchner, DEN Ossi. Die Menschen sind genauso unterschiedlich wie überall.

Natürlich ist eine Inversion nicht immer verwerflich, z.B, dann nicht, wenn etwas stilistisch betont werden soll.
Dieses Machwerk aber hat keine stilistischen Elemente.

"Berlin, mein lieber trauter Heimatort,
wo dräuen Häuserblocks mit vielen Zimmern,

hier wurde die Satzstellung nur vergewaltigt, um das Wort Zimmer am Ende zu haben.
Dann dieses hier:

"wo das TV, in Kellern Mäuse wimmern -"

sprachlich sehr ungeschickt, das TV, wimmert das TV auch im Keller? Und seit wann wimmern Mäuse. Hier piepsen sie oder fiepen, aber vielleicht ist das in Berlin ja auch anders.

"drauf geb ich ungeprüft mein Ehrenwort,"

naja, reim dich oder ich fress dich-Variante ohne jede Aussagetragweite.

LG von Koko

Erich Kykal 02.12.2016 16:29

Hi Angelika!

Du sagst:

"... und ich will es dir nicht verhehlen, die Sonetterei finde ich leicht nervend. Zumal sie sprachlich sehr oft eine Pseudo-Gehobenheit vorführt, die eine klare Aussage verschwiemelt, weil die Autoren sich stilistisch oft als Epigonen des 19. Jahrhunderts bemühen, als wir noch den Kaiser hatten, es allerdings nie erreichen."

Und das sagst du zum größten und engagiertesten Sonettschreiber des Forums, ohne ihn davon auszunehmen? ;):D:rolleyes: Charmant! :D


Kleiner Scherz am Rande - nicht ernst nehmen! ;):Blume:

Angelika 02.12.2016 16:52

Ach ja, wusst ich nicht. Aber wem anders sollte ich es denn sagen?

Geknickt, Angelika


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