Gedichte-Eiland

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Stachel 27.09.2016 09:30

Verlassen
 
Deutlich waren seine Worte,
Unter denen er verging.

Während er vom Balken hing,
An dem Strick von fester Sorte,
Redete sein Brief für ihn.
Sehr bedächtig formulierte
Tiefe Worte, ziselierte

Nachtgedanken, schrieb er hin.
In sich böse Zungen keifend,
Chancenlos nach Zukunft greifend,
Hat er dich ersehnt zur Wende,
Traute lange deinem Sinn.

Dennoch hat er vor dem Ende
Alle Hoffnung dir verziehn.

Erich Kykal 27.09.2016 23:10

Hi Stachel!

Erst mal die Peanuts:

Deutlich waren seine Worte Komma am Ende.
Unter denen er verging.

Während er vom Balken hing,
An dem Strick von fester Sorte,
Redete sein Brief für ihn.
Sehr bedächtig formulierte
Tiefe Worte, ziselierte

Nachtgedanken, schrieb er hin. Kein Komma vor "schrieb".
In sich böse Zungen keifend, Man keift keine bösen Zungen - sie keifen über einen.
Chancenlos nach Zukunft greifend,
Hat er dich ersehnt zur Wende, Ungünstig formuliert, unklare Bezüge.
Traute lange deinem Sinn.

Dennoch hat er vor dem Ende
Alle Hoffnung dir verziehn.


Ein Akrostichon also - ein Selbstmörder schimpft post mortem per Abschiedsbrief auf den abwesend gewesenen Partner, in tiefen Worten und bösen Zungen, wenn ich das richtig deute, aber letztendlich doch die falsche Hoffnung vergebend, die der Partner weckte und nie erfüllte.

Gefällt mit sehr gut, nur die "Nachtgedanken"-Strophe könnte sprachlich noch ein wenig ausgefeilter und übersichtlicher gestaltet sein.

Gern gelesen! :)

LG, eKy

Stachel 28.09.2016 13:44

Hallo Erich,

danke für deinen freundlichen Beitrag. Ich freue mich, dass du es auf einen fehlenden Partner bezogen hast. Dieser Bezug funktioniert demnach, trotz V12 "deinem Sinn". :)
Ich hatte zuerst den Titel "Gottlos" gewählt, aber dann wäre mir die Bezugsmöglichkeit zu einseitig geworden.

Zu den Peanuts:

Beim ersten Komma hast du sicher recht.
Die "ziselierten Nachtgedanken" präzisieren die "Tiefe[n] Worte". Sie könnten auch in Klammern oder Gedankenstrichen stehen:
Sehr bedächtig formulierte tiefe Worte - ziselierte Nachtgedanken - schrieb er hin.
MMn muss vor "schrieb" daher ein Komma stehen.

Zitat:

Zitat von Erich Kykal
Man keift keine bösen Zungen - sie keifen über einen.

Genau, oder in einem. Die Passage ist nicht aktiv gemeint und damit zugegeben missverständlich weil ungewöhnlich.
Vgl:
In sich Melodien klingend
In sich Hummeln flügelschlagend
In sich ein großer Stern berstend (nicht einen, was wieder aktiv wäre)
Gemeint ist also: In sich [vernahm er/spürte er/peinigten ihn/etc] keifende, böse Zungen ...
Vielleicht wäre es sinnvoll oder gar zwingend, vor "keifend" ein Komma zu setzen:
In sich böse Zungen, keifend,
Aber vielleicht steigert das auch die Verwirrung.

Chancenlos nach Zukunft greifend, hat er dich ersehnt zur Wende.
Welcher Bezug ist unklar? Der Suizident hat auf eine Wende in seinem Leben gehofft, ausgelöst durch das LD.

Die Deutung ist weitgehend richtig bis auf die "bösen Zungen". Über sie wird berichtet, sie haben aber den Brief nicht (mit-)geschrieben. Der Brief enthält keine Beschimpfungen, sondern eher tiefsinnige ("tiefe Worte") und ausführliche ("ziselierte"), aber tieftraurige ("Nachtgedanken") Erklärungen.

Freundliche Grüße von
Stachel

Erich Kykal 28.09.2016 20:00

Hi Stachel!

Um die Zeile mit dem "keifend" so zu verstehen, wie du sie gedeutet haben willst, ist ein Komma vor jenem "keifend" zwingend nötig, da der Bezug dieses "keifend" sonst in diesem unvollständigen Satz für den Leser unklar ist (wie ich bereits schrieb):
Er liest es instinktiv in der Deutung, dass Er, das LyrIch "böse Zungen in sich keifte" (eine Formulierung, die das Wort nicht zulässt), nicht dass die "bösen Zungen in ihm keiften".
Dann hättest du schreiben müssen: "In sich böse (keifende) Zungen spürend" oder so.

Dann ist also eigentlich ein Gläubiger gemeint, der einmal zu oft von seinem (abwesenden) Gott enttäuscht wurde, einsah, dass er nicht existiert und sich umbrachte?
Wenn das so ist, erscheint es dann sinnvoll, das Gedicht in der Conclusio an ebendiesen - zuvor inhaltlich erwiesen nicht existenten - Gott zu richten? Eine für mich verwirrende Unlogik ...

LG, eKy

Stachel 30.09.2016 07:35

Hallo Erich,

ich bin der Undeutlichkeit mit einer "extended Version" begegnet:


Zitat:

Deutlich waren seine letzten Worte,
Unter denen er den Tod beging.
Während er vom Deckenbalken hing,
An dem Seidenschal von fester Sorte,

Redete sein Abschiedsbrief für ihn.
Sehr bedächtig, zärtlich formulierte,
Trauerschwangre Worte, ziselierte
Nachtgedanken, schrieb er zitternd hin.

In ihm drin, da keiften böse Zungen.
Chancenlos hat er um Kraft gerungen,
Hat dich so ersehnt für eine Wende,

Träumte lange deiner als Gewinn.
Dennoch hat er dir vor seinem Ende
Alle falschen Hoffnungen verziehn.

Zitat:

Zitat von Erich Kykal (Beitrag 97242)
Dann ist also eigentlich ein Gläubiger gemeint, der einmal zu oft von seinem (abwesenden) Gott enttäuscht wurde, einsah, dass er nicht existiert und sich umbrachte?
Wenn das so ist, erscheint es dann sinnvoll, das Gedicht in der Conclusio an ebendiesen - zuvor inhaltlich erwiesen nicht existenten - Gott zu richten? Eine für mich verwirrende Unlogik ...

Wie ich sehe, führt der Titel direkt auf ein Abstellgleis. Wie gut, dass ich ihn nicht verwendet habe. :Aua
Ich denke, das Gefühl, von "seinem" Gott verlassen zu sein ist nicht gleichbedeutend mit der Gewissheit seiner Nichtexistenz. Das ist natürlich nicht so leicht, einem Atheisten zu erklären. :rolleyes:;)
Mein Partner löst sich ja auch nicht auf (oder entschwindet nachträglich/rückwirkend in Nichtigkeit), wenn er mich verlässt.
Für mich ist es psychologisch sehr plausibel, sich für besonders klein und unbedeutend zu halten, wenn man das Gefühl von (göttlicher oder menschlicher) Nichtbeachtung erlebt. Den Satz "Wenn ich nicht mehr da bin, merkt das eh keiner." kennt vermutlich so ziemlich jeder, vielleicht aus eigenen schwachen Momenten, vielleicht aus dem näheren Umfeld oder über Erzählungen. Der Text berichtet über jemanden, der diesen letzten Schritt gegangen ist.
Wichtig war mir dabei, wie gesagt, dass die spirituelle Lesart zwar enthalten ist, sich aber nicht in den Vordergrund drängt.

Freundliche Grüße von
Stachel

Erich Kykal 30.09.2016 15:52

Zitat:

Zitat von Stachel (Beitrag 97260)
Ich denke, das Gefühl, von "seinem" Gott verlassen zu sein ist nicht gleichbedeutend mit der Gewissheit seiner Nichtexistenz. Das ist natürlich nicht so leicht, einem Atheisten zu erklären. :rolleyes:;)
Mein Partner löst sich ja auch nicht auf (oder entschwindet nachträglich/rückwirkend in Nichtigkeit), wenn er mich verlässt.
Für mich ist es psychologisch sehr plausibel, sich für besonders klein und unbedeutend zu halten, wenn man das Gefühl von (göttlicher oder menschlicher) Nichtbeachtung erlebt. Den Satz "Wenn ich nicht mehr da bin, merkt das eh keiner." kennt vermutlich so ziemlich jeder, vielleicht aus eigenen schwachen Momenten, vielleicht aus dem näheren Umfeld oder über Erzählungen. Der Text berichtet über jemanden, der diesen letzten Schritt gegangen ist.
Wichtig war mir dabei, wie gesagt, dass die spirituelle Lesart zwar enthalten ist, sich aber nicht in den Vordergrund drängt.

Hi Stachel!

Daraus erschließt sich mir nur, wie wenig logisch gläubige Menschen doch denken!
Wenn ihr Gott nach eigener Definition ein allumfassend wissender und liebender ist, der selbst den größten Sündern noch vergeben kann, dann muss so ein Gefühl des Verlassenseins ein eingebildetes, selbstmitleidiges sein, denn ein allwissender Gott KANN einen ja eigentlich gar nie "verlassen"!

Das Verlassenwerden durch einen Partner ist etwas, das immer wieder passiert - sicher schmerzvoll, aber kein Grund für Suizid für einen selbstständigen, eigenverantwortlich handelnden, emotional stabilen Menschen ... oh, ich vergaß, wir reden hier ja über GLÄUBIGE ... :rolleyes:

Und auf den Satz "Wenn ich nicht mehr da bin, merkt es eh keiner!" kann ich nur antworten: Na und? Warum ist für viele Menschen der Gedanke so wichtig, dass es einer merkt? Bin ich erst tot und damit nichtexistent, ist es mir ohnehin egal (und bei einer Nachtodexistenz wäre es sehr wahrscheinlich ebenso), warum kann ich also davor nicht mit der Vorstellung leben?
Genau diese wehleidige emotionale und lebenspraktische Inkompetenz führt dazu, dass ich solche Mensch zwar bedauern, aber geistig nicht ernst nehmen kann ...

Und überhaupt, wenn jemand gläubig ist, dürfte er diesen "letzten Schritt" ja gar nicht gehen, ohne das Geschenk seines Gottes aufs Tiefste zu verraten und wegzuwerfen, nicht wahr? Also noch unlogischer!

Kurz gesagt, wer sich wegen eines "schwachen Moments" wegwirft - obwohl eine ausreichende Lebenserfahrung ihm eigentlich schon hinreichend gezeigt haben sollte, dass solche Momente auch wieder vorübergehen - und obwohl er es nach den Basisstatuten seiner Religion gar nicht tun dürfte - und obwohl er wissen müsste, dass ein gütiger und allumfassender Gott per definitionem immer bei ihm sein muss - - - der ist in meinen Augen ohnehin zu blöd zum Leben. :D;)

LG, eKy

Stachel 30.09.2016 21:43

Hallo Erich,

zum Glück sind Menschen selten logisch. Sonst wären viele Psychologen arbeitslos, denn es würden Mathematiker reichen. ;)

Freundliche Grüße von
Stachel


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