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Alt 19.09.2011, 19:09   #4
Thomas
Erfahrener Eiland-Dichter
 
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Registriert seit: 24.04.2011
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Hallo wüstenvogel,

die 'Bilder', die du versuchst sprachlich 'umzusetzen' sind sehr schön und man merkt, dass du dich intensiv mit Poesie auseinandergesetzt hast. Deshalb nimm bitte das, was stimme der zeit sagt nicht auf die leichte Schulter. Ich kann mir vorstellen, dass du 'keine Rücksicht auf Versmaß oder Reimschema' nimmst, das ist an sich gar kein Problem. Manche bekommen es von den Göttern geschenkt. Deine Begründung 'Ich habe das Gefühl, dass mich das zu sehr einengt' lässt mich jedoch befürchten, dass du dabei aus einem falschen Grund handelst. Wenn ich falsch liege, bitte ich um Entschuldigung für alles was ich jetzt schreiben werde. Aber dieser falsche Grund ist ein Irrtum, dem viele moderne Lyriker aufsitzen. Deshalb versuche ich es zu erklären, was nicht einfach ist.

Natur und Kunst, sie scheinen sich zu fliehen
Und haben sich, eh man es denkt, gefunden;
Der Widerwille ist auch mir verschwunden,
Und beide scheinen gleich mich anzuziehen.

Es gilt wohl nur ein redliches Bemühen!
Und wenn wir erst in abgemessnen Stunden
Mit Geist und Fleiß uns an die Kunst gebunden,
Mag frei Natur im Herzen wieder glühen.

So ists mit aller Bildung auch beschaffen:
Vergebens werden ungebundne Geister
Nach der Vollendung reiner Höhe streben.

Wer Großes will, muss sich zusammenraffen;
In der Beschränkung zeigt sich erst der Meister,
Und das Gesetz nur kann uns Freiheit geben.

Goethe sagt (in damals 'antiquierter' Sonettform!): 'Das Gesetz nur kann uns Freiheit geben!' Ist das nicht paradox? Was 'einengt' soll 'frei' machen? Der philosophische Gedanken, den Goethe hier anklingen lässt, ist weit über die Poesie hinaus von Bedeutung. Bezogen auf die Poesie, wage ich zu behaupten: Wer das nicht verstanden hat, kann kein großer Dichter werden. Das ist ein ziemlich hartes Urteil über einige scheinfreien modernen Lyriker.

Was du über 'Versmaß und Reimschema' sagst ist, wie gesagt, ok. Aber es klingt das Missverständnis schon an. Genau wie kein genialer Maler mit Zirkel und Lineal die Grenzen seiner Bilder festlegt, dichtet kein Dichter mit dem Versmaß in der Hand. Aber genau wie der Maler, hat er sein Handwerkszeug so verinnerlicht, dass er es gar nicht mehr hervorholen muss. Was er beim sprachlichen 'umsetzten' jedoch genaustens im Ohr hat, ist die Form. Das 'Einengen' durch die Form ist nicht ein äußerer Zwang, wie etwa die Form mit der man Ziegelseine macht (es gibt natürlich viele 'Ziegelsteingedichte'), sondern die Form ist ein Entwicklungsgesetz, es ist das, was den Baum ganz unverwechselbar zum Baum macht, auch wenn er sich in jedem seiner Blättchen von seinem Nebenbaum unterscheidet. Es sind also diese Art von ('Baum'-)Gedichten, welche Goethes Paradox lösen. Vor diesem Hintergrund sind alle Formen, welche die Dichter der Vergangenheit erfunden und erarbeitet haben Geschenke und können gar nicht einengen, sondern sie helfen beim Entfalten der Ideen und beim 'Umsetzen'. Es geht nicht darum, alte Dichter nachzumachen, sondern sie zu würdigen und auf ihre Schultern zu steigen, anstatt sie auf den historischen Müllhaufen zu werfen.

Da du dich seit vielen Jahren mit Poesie befasst, hast du wahrscheinlich sehr viel von den großen Dichtern aufgenommen, was dein Formgefühl und deinen Stil entwickelt hat. Ich möchte auch gar nicht deinen persönlichen Stil ändern oder gar ausreden, sondern nur auf einen Punkt hinweisen, der meiner Meinung nach scharf gesehen werden muss, um den eigenen Stil weiter zu entwickeln.

So, jetzt habe ich einen rechten Sermon geschrieben. Trotzdem noch eine kurze Frage. Die 'Bilder', die du umsetzt, sind sie stumm, oder haben sie (manchmal/immer) etwas Melodisches? Das könnte für die Form von Bedeutung sein.

Jetzt langt es. Nichts folgt mehr.

Außer: Ich warte gespannt auf dein nächstes Gedicht!

Viele Grüße
Thomas
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