Thema: Abgestanden
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Alt 20.09.2011, 21:15   #3
Falderwald
Lyrische Emotion
 
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Moin Stimme,

nach dem Lesen entfaltet der Titel erst seine ganze Wirkung, sozusagen als Nachbrenner, denn er erhält einen bitteren Beigeschmack.
Ist ein schales Bier schon keine schöne Vorstellung, so steht der Begriff "Abgestanden" für einen alten Menschen synonym für nutzlos, verbraucht und einsam.
Ein trauriges Schicksal, was sich für viele alte Menschen am Ende ihres Lebens erfüllt.

Einige von ihnen müssen tatsächlich in eine Wirtschaft gehen, um noch einmal unter Menschen zu kommen und somit zumindest noch ein wenig am gesellschaftlichen Leben teilnehmen zu können.

Das habe ich auch früher zu meinen aktiven Kneipenzeiten oft beobachten können.

Und so entsteht auch beim Lesen des Textes ein "altbekanntes" Bild vor meinen Augen.
Ich sehe den alten Mann alleine an seinem Tisch sitzen. (Ich kannte tatsächlich einen solchen alten Mann, Eugen hieß er. Was aus ihm geworden ist, weiß ich nicht, ich gehe aber davon aus, daß er nicht mehr lebt, weil er damals vor 25 Jahren schon weit über siebzig war.)
Vor sich hat er ein Bier stehen und er scheint in Gedanken versunken, so, als sei er gar nicht anwesend.
Es vergeht ein wenig Zeit, langsam, und man sieht es nur an der Schaumkrone des Bieres, die stetig abnimmt, weil die kleinen Bläschen unhörbar zerplatzen und ihr gasgefüllter Inhalt verfliegt.

Und nach einiger Zeit mehr wird jedem Beobachter klar, daß dies tatsächlich das letzte Bier dieses alten Mannes war.

Sehr schön fand ich Zeile drei, wo sich schon andeutet, daß er vielleicht gar nicht mehr hier ist.
Ebenfalls gelungen ist Zeile sieben, weil hier gezeigt wird, wieviel Zeit diese kleine Szene in Anspruch nimmt.
Ein gut gezapftes Pils behält seine Schaumkrone etwa fünf Minuten und ist wohl nach weiteren 20 Minuten schon relativ schal, weil auch das meiste der restlichen Kohlensäure verflogen ist.

Und den Titel möchte ich in seiner Zweideutigkeit auch als gelungen bezeichnen, was ich bei einem so kurzen Text auch sehr wichtig finde.

Eine Anmerkung sei mir noch erlaubt:

Ich würde statt "Ein alter Mann" mit "Der alte Mann" beginnen.
Damit wäre nicht nur die Doppelung "ein" in den ersten beiden Zeilen beseitigt, sondern auch dieser ganz bestimmte alte Mann bezeichnet, der den Protagonisten in dieser kurzen Szene spielt, wenn auch ziemlich passiv.

Alles in allem ein kleiner, aber gelungener Text.


Gerne gelesen und kommentiert...


Liebe Grüße

Bis bald

Falderwald
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Oh, dass ich große Laster säh', Verbrechen, blutig kolossal, nur diese satte Tugend nicht und zahlungsfähige Moral. (Heinrich Heine)



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