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Alt 26.08.2011, 19:44   #3
Stimme der Zeit
Erfahrener Eiland-Dichter
 
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Hallo, liebe Dana,

deine Grüße wurden vom Wind zu mir getragen und sind gerade angekommen.

Ich gehe zuerst auf deine "Krittelei" ein. Zunächst:

Zitat:
Es fährt der Zug der Zeit auf seinen Schienen,
so viele Leute kaufen einen Fahrschein,
im Handgepäck ein Herz voll Bitterkeit.
Als Proviant dient ihnen der Zynismus,
dazu noch eine Flasche kalter Streit.

xXxXxXxXxXx
xXxXxXxXxXx
xXxXxXxXxX
xxXxXxXxXx ...... oder: XxXxXxXxXx
"dazu" wird xX betont, also: xXxXxXxXxX. Das passt schon.

Zitat:
Sie setzen sich mit ausdruckslosen Mienen,
ein jeder will für sich alleine sein.
"Herr Schaffner, hier: Ich fahre erster Klasse,
befreien Sie mich von der grauen Masse!
Einhundert Euro für Opportunismus,
ich zahle gut für einen Fensterplatz!"
Diese Zeile hebe ich optisch hervor, bezugnehmend auf die Betonungsregel, die ich von Faldi gelernt habe. Hier wollte ich "tricksen". Man kann es nämlich, ohne dass es falsch klingt, als Jambus lesen. Betonungstechnisch ist es aber ein vierhebiger Daktylus.

Einhundert wird korrekt Xxx betont, und Opportunismus eigentlich xxxXx. Also wird die Silbe "Op" sozusagen von "beiden Seiten" angehoben, weshalb die Betonung "natürlich" klingt. Dieser Vers wird also so betont:

XxxXxxXxxXx.

Ich wollte "testen", ob das funktioniert. Deshalb freue ich mich auch!
Die Zeile soll als einziger Vers mit Daktylen eben jenen Opportunismus symbolisieren. Der Schaffner wird bestochen - und wendet sich dem "edlen Spender" zu. Deshalb "wendet" sich hier das Metrum.

Ja, der Wechsel zum Trochäus im letzten Vers ist ebenfalls beabsichtigt. Ebenso die Wahl, hier nur einsilbige Worte zu verwenden. Das soll ein "Zu-Fuß-Gehen" darstellen. Auch hier findet eine "Wendung" statt. Sowohl im inhaltlichen Sinn als auch im Metrum.

"Bitterkeit" - "Streit" - "Neid" - "Einsamkeit". Das ist eine Art "roter Faden". (Deshalb habe ich mir den unreinen Reim "Neid" hier "durchgehen" lassen, es wird ja sehr ähnlich gesprochen und inhaltlich war es mir zu wichtig. )

Tatsächlich gibt es nur zwei Waisen: Fensterplatz und Haus. Nun ja, Häuser haben Fenster ... Dazu kommt noch, dass derjenige, der am Fenster Platz nimmt, so alleine ist wie derjenige, der sich am Schluss des Gedichts abwendet. Nur aus ganz anderen Gründen, und auf eine ganz andere Art.

Das Kadenzschema und die Silbenzahlen bewegen sich von oben und unten "aufeinander zu":


xXxXxXxXxXx5-11,a,w
xXxXxXxXxXx5-11,b,w
xXxXxXxXxX5-10,c,m
xXxXxXxXxXx5-11,d,w
xXxXxXxXxX5-10,c,m
xXxXxXxXxXx5-11,a,w
xXxXxXxXxX5-10,b,m
xXxXxXxXxXx5-11,e,w
xXxXxXxXxXx5-11,e,w
XxxXxxXxxXx5-11,d,w
xXxXxXxXxX5-10,f,m
xXxXxXxXxXx5-11,g,w
xXxXxXxXxX5-10,h,m
xXxXxXxXxXx5-11,i,w
xXxXxXxXxX5-10,h,m
xXxXxXxXxXx5-11,i,w
xXxXxXxXxXx5-11,i,w

XxXxXxXxX5-9,j,m

Hier ging es mir um die Kadenzen, die ein "Muster" bilden. Die Endreime selbst sind nach einem anderen Muster angeordnet. Moderne Computertechnik sorgt für sehr komplexe "Schaltsysteme", um dem immer größer (und schneller) werdenden Verkehrsaufkommen gewachsen zu sein. So lange die Züge nicht zusammen stoßen, funktioniert es (), aber es wirkt ein wenig "ungeordnet" - obwohl es seine Ordnung hat. Das ist ebenfalls eine symbolische Darstellung. Das "Treffen" der Kadenzen findet bei der "grauen Masse" statt. Der 8. und 9. Vers besteht aus einem Paarreim, den ich in der "Mitte" des Gedichts platziert habe. Darum "bewegt" sich ja auch das Thema: Masse und Klasse - "im Gefolge" den Opportunismus.

Zitat:
Das Spiel mit Reimen ist anders, aber gut - nur:

Es fährt der Zug der Zeit auf seinen Schienen

Hier stört mich etwas. Jeder Zug fährt auf Schienen, ob es die seinen sind?
Ich sähe hier lieber eine Beschreibung für die Schienen, ohne einen besseren Einfall zu haben.

Der Zug der Zeit er fährt auf ..... Schienen,

so viele Leuten kaufen einen Fahrschein

Der Zug fährt bereits und die vielen Leute kaufen einen Fahrschein. Mir passt die Reihenfolge nicht. (Allerdings werde ich jetzt unsicher, ob es nicht Züge gibt, wo man tatsächlich während der Fahrt löst - hier im kl. Städtchen gibt es das nicht.
Auch ist es der Sprachklang, der nicht so "fluppt".
Ich tue mich schwer im Erklären.
Mir schwebt so etwas vor:
So viele Menschen lösen (kaufen) einen Fahrschein für eine Reise mit dem Zug der Zeit - verstehst du?
"seinen" Schienen kommt wohl nicht so zu dir "herübergefahren", wie ich es mir dachte. Deshalb stimme ich dir zu, es soll ja auf den Leser "sinnvoll" wirken, und nicht nur in meiner Intention. Hm - hast du vielleicht einen Vorschlag? (Ich denke auf jeden Fall darüber nach, aber trotzdem wäre ich für Vorschläge absolut offen - und natürlich dankbar!)

Lediglich die Reihenfolge

Zitat:
Es fährt der Zug der Zeit auf seinen Schienen,
so viele Leute kaufen einen Fahrschein,
möchte ich vom sinninhaltlichen Zusammenhang her beibehalten. Denn der Zug fährt, mit oder ohne uns - wir entscheiden, ob wir einen Fahrschein kaufen, ob wir einsteigen - oder auch nicht. Der Zug allerdings fährt bereits, ich hoffe, du verstehst, was ich sagen möchte. Die Leute müssen hier noch nicht eingestiegen sein! Der Zug fährt - sie kaufen einen Fahrschein - sie steigen ein. Hm, ich merke mir das aber für künftige Gelegenheiten, dein Hinweis ist wichtig: Ich hätte besser das Einsteigen noch erwähnen sollen, um es klarer zu machen. Danke! (Hier kann ich es aber aufgrund der Muster nicht mehr ändern. )

Zitat:
Dann die Menschen voll Bitterkeit und der EINE voll Einsamkeit.
Das doppelte "voll" fällt auf.
Bei deinem gewollten "Spiel" mit Reimen, kannst du die Einsamkeit evtl. anders beschreiben - wie, weiß ich nicht.
Nun ja, auch das doppelte "voll" wollte ich eigentlich so haben, aber wenn es nicht "wirkt", dann suche ich nach einer Alternative. Wie wäre es mit:

"Am Bahnhof steht ein Mensch in Einsamkeit" (?)

Ich ändere es (vorläufig) so, falls du eine bessere Idee hast, nur her damit.

Mir ist hier der "Mensch" im Zusammenhang mit der "Einsamkeit" wichtig, denn in Strophe 1 schrieb ich von "Leuten" und "Bitterkeit".

"Leute" sind "viele" und es sind immer nur die "Einzelnen", die sich dem "Zug der Zeit" widersetzen. Obwohl der "Fahrtwind" sehr rauh an ihnen "zerrt" ...

Zum Inhalt:

Zitat:
ich habe mir dein neues Werk ein wenig aufgeteilt und lese mich immer wieder ein.
Die nachdenkliche Aussage ist klar erkennbar. Die hohen Herren (Opportunisten) nutzen ihre (finanziellen) Vorteile - doch alle, auch die graue Masse, spiegeln Bitterkeit, Zynismus und Streit.
Nur einer, der Einsame, kehrt diesem Geschehen den Rücken.
Ich sehe ihn fast bildlich, wie er sich auf den Weg macht und finde ihn vom Gefühl her weit weniger einsam als die übrigen Insassen.
Er kommt vielleicht später nach Haus, aber er wird anders ankommen.
Ja, er ist irgendwie "weniger einsam", nicht wahr? Denn er entschied selbst - die anderen "lassen" entscheiden und fahren mit, da so viele auf diesen "blanken" Gleisen unterwegs sind. Etwas "Blankes" glänzt so schön ...

Zitat:
denn diese Geister sind die wahren Herren.

Das gönne ich diesen Herren nicht, dass sie wahr sind. Es sind die hohen Herren auf höchster Eisenbahn.
Ich gönne es ihnen auch nicht, aber sie sind leider trotzdem wahr.

Zitat:
Der Titel ist wörtlich und wortspielerisch gut gewählt.
Dankeschön! Das freut mich wirklich, denn wie immer habe ich länger am Titel herumgegrübelt als am Gedicht.

Zitat:
Gerne eingelassen, gern ein wenig gekrittelt
und meine Grüße sende ich mit dem Wind zu dir,
Dana
Ich sende mit dem (sanften) Wind der Freundschaft meine Grüße zurück an dich.

Danke für dein "Einlassen" und für die Mühe, die du dir beim Kommentieren gemacht hast!

Herzliche Grüße

Stimme
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Geändert von Stimme der Zeit (26.08.2011 um 19:51 Uhr) Grund: Eine X-er-Zeile "verschwand" einfach, ts ... und ein Tippfehler war auch noch drin. Zeit für eine neue Brille?
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