Thema: Sonett
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Alt 16.08.2016, 12:05   #31
Romantiker2016
Holger
 
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Hallo Falderwald.
Seit über hundert Jahren wird in der Dichtung häufig (früher weniger häufig) vom normativ-konservative Stil des Sonetts abgewichen. - Hier haben wir ein Beispiel aus dem Februar 1922, als Rainer Maria Rilke seine weltberühmten Sonette an Orpheus verfasst hat:

Atmen, du unsichtbares Gedicht!
Immerfort um das eigne
Sein rein eingetauschter Weltraum. Gegengewicht,
in dem ich mich rhythmisch ereigne.
Einzige Welle, deren
allmähliches Meer ich bin;
sparsamstes du von allen möglichen Meeren, –
Raumgewinn.
Wieviele von diesen Stellen der Räume waren schon
innen in mir. Manche Winde
sind wie mein Sohn.
Erkennst du mich, Luft, du, voll noch einst meiniger Orte?
Du, einmal glatte Rinde,
Rundung und Blatt meiner Worte.

Wenn hier das übliche Metrikkorsett über die Verse des Sonetts gelegt wird, sind die Abweichungen enorm. - Die Entwicklung zur Freiheit der Darstellung in der Dichtkunst hat sich mittlerweile innerhalb der Gegenwartslyrik in der Weise entwickelt, dass jegliche Metrik ausgemerzt wurde. - Das mag man mit Recht bedauern; die Protagonisten der neuen Zeit werden entgegnen, dass ein Regelwerk für die Entfaltung feinster Gedanken zwischen Unbewusstem und Bewussten eher hinderlich sei. - Dennoch bestehen Gesetzmäßigkeiten in der neuen Lyrik; es würde aber zu weit führen, sie an dieser Stelle zu beleuchten.

Es sei mir verziehen, wenn ich hier ein wenig aushole, um meinen persönlichen Gedanken zur Dichtung eine bessere Grundlage zu geben:

Es ist so, dass sich das Werk eines dionysischen Dichters durch Stimmung, Fülle und Reichtum auszeichnet; beim Lesen erfreut man sich an tausend Einzelheiten und wird am Ende dennoch wunderlich enttäuscht; gegen das Ganze wird sich der etwaige Tadel richten. - Der apollinische Dichter hingegen ist kälter und ärmer, jedoch hat er die Form in der Gewalt. - Aus diesem Grunde wird er die Herzen mit seiner Dichtung im ersten Augenblick weniger entzünden, aber der Eindruck wird leben und dauern. Die Form ist das Organische und wird aus dem Unbewussten heraus geschaffen, jedoch kann sie nicht (wie beim dionysischen Dichter) die feinste Bildung und Fülle des Geistes wiedergeben; der Körper muss nämlich aus dem Körper geboren werden. - In der Symbolik der griechischen Mythologie bedeutete Apollo die Einheit und Dionysos die Vielheit.
Meiner Dichtung liegt der Versuch zugrunde, durchglüht zu sein, sowohl von dionysischen als auch von apollinischen Klängen und Formen.
Und so gleicht alle geistige Berührung einem Zauberstab; das Gedicht stellt dabei das Zauberwerkzeug dar.
Mehr zu diesem Themenkomplex kannst Du, wenn Du magst, lieber Falderwald, einem Interview entnehmen, das ich im Feuilleton des Forums eingestellt habe.

Nun aber endlich ein paar Worte zu Deiner Einlassung zum Sonett:

Das Werk hat mehrere verschiedene, in sich greifende, Deutungsebenen; Deine Gedanken sind weitgehend zutreffend.

Ich möchte nun in aller Kürze auf die Aussagen der Verse eingehen; aus Gründen der Anschaulichkeit habe ich das Sonett hier noch einmal eingefügt:


Die ewigen Blumen

Auf welchen himmelwärts strebenden Wiesen
wachsen in heißer Blüte Blumen der Hoffnung,
entrückt, verborgen an Hängen, die diesen
dunklen Räumen schenken uns ferne Erbauung ?

Blumen, niemals welkend, die keiner dir nimmt -
mögen Zeitenstürme auch toben und wallen -
dir sind glorreiche Blüten von Engeln bestimmt,
deren Lieder dir stets im Innersten hallen.

Ach, sind denn, jenseits von glühenden Sternen,
fernab von unsrem Versagen und Lernen,
die ewigen Auen uns fruchtbar und weit ?

Wer vermochte, ohne ein blindes Sehen,
rein und fest in diesen Reichen zu stehen ?
Doch jene Blumen sind immer für uns bereit.


Das erste Quartett stellt die Frage nach dem Ort und beschreibt gleichzeitig eine unbestimmte Ahnung von fernen Gestaden, der Quelle des Daseins übehaupt. - Wir existieren als Menschen getrennt von dieser Entität und doch ist einem Jeden eine Gewissheit eingepflanzt, die man nicht verifizieren kann. - Einigen Menschen wird das, in einem zustand der Gleichzeitigkeit von Traum und Bewusstsein (siehe hierzu "Der fünfte Spaziergang" von Rousseau), beispielsweise beim Betrachten des Sternenhimmels oder einer tiefen Verbindung zur Natur, deutlich gewahr. - Gerade die besonder Formulierung "uns ferne" im vierten Vers stellt zu dieser besonderen Wahrnehmungsfähigkeit des Menschen einen Bezug her.

Das zweite Quartett betont die Konvergenzen die zwischen der Ewigkeit und unserem Dasein bestehen und beschreibt zugleich diese Entitäten als ein immanentes System, das (bewusst oder unbewusst) geahnt wird.

Das erste und zweite Quartett bilden die These.

Die Synthese erfolgt jeweils im ersten und zweiten Terzett:

Erstes Terzett:

Die ewige Frage der Menschheit (was hält die Welt im Innersten zusammen) klingt an. Einsicht und Hoffnung reichen sich die Hand; die bange Frage bleibt.

Zweites Terzett:

Wir sind quasi blind in unserem Dasein, weil wir im Allgemeinen nur einen winzigen Ausschnitt der Realität wahrnehmen; das ist wisswenschaftlich unbestritten. Es gibt also Dinge, Zustände und Wahrheiten, die weit über uns hinausreichen. - "Rein und fest in diesen Reichen (der absoluten Wahrheit) zu stehen" vermögen vielleicht spirituell höchstentwickelte Menschen.
Die Versöhnung mit der Hoffnung, welche in einem direkten Bezug zur besagten Formulierung "uns ferne" steht, formuliert die Aussage, dass die Blumen der Ewigkeit immer für uns da sind, in nächster Nähe und dennoch fern: tief in uns verwurzelt.


Sei herzlich gegrüßt, Holger
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„ . . . wenn uns das Lärmen der Tage erschöpft, tun sich leise träumend
Land und Himmel auf, – Wiesen werden zu sanften Brüdern.“

Geändert von Romantiker2016 (18.08.2016 um 06:22 Uhr)
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