Thema: O Geist
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Alt 26.06.2016, 15:39   #4
Falderwald
Lyrische Emotion
 
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Servus Erich,

es freut mich, wenn dir die lyrische Sprache zusagt. Schade ist es aber, dass du mit dem Inhalt nicht klarkommst, denn dass dieser durchaus verständlich ist, hat mir der zweite Kommentar gezeigt, der eine gute Interpretation meiner Intentionen spiegelt.

Das „Spiegelbild“ in Strophe zwei bezieht sich selbstverständlich auf den „Blütentraum“. Meiner Meinung nach muss das gar nicht erklärt werden, denn jeder Traum, jede Weltanschauung, ja jede Weltbetrachtung ist immer nur ein Spiegelbild dessen, was sein Besitzer betrachtet und empfindet.

Dieser Text steht ja auch nicht umsonst in der „philosophischen Abteilung“, soll also zum Nachdenken und zum Eintauchen anregen.
Und philosophisch gesehen sind der Geist und der Verstand auf gar keinen Fall ein und dasselbe.

Immanuel Kant hat den Verstand ganz klar der Vernunft gegenübergestellt. Er sah im Verstand die Fähigkeit, Begriffe bilden und diese zu Urteilen verbinden zu können.

Arthur Schopenhauer sagte (und dazu tendiere ich auch):
„Das subjektive Korrelat der Materie oder der Kausalität, denn beide sind eines, ist der Verstand, und er ist nichts außerdem. Kausalität erkennen ist seine einzige Funktion, seine alleinige Kraft.“

Damit beschränkt sich der Verstand auf das Erkennen von Ursache und Wirkung.
Womit im Prinzip auch ausgesagt wird, dass selbst Tiere einen Verstand besitzen, den sie im täglichen Überlebenskampf auch brauchen, sonst könnten sie gar nicht überleben.

Der „Geist“ hingegen bezeichnet im Zusammenhang mit dem (menschlichen) Bewusstsein die kognitiven Fähigkeiten des Menschen, also die Wahrnehmung, das Lernen, Erinnerung und Vorstellung und sämtliche Formen des Denkens wie Überlegung, Auswahl, Entscheidung, Absicht, Planung, Strategie, Voraussicht, Einschätzung, Gewichtung, Bewertung, Kontrolle, Beobachtung und Geistesgegenwärtigkeit.

Damit wäre der Verstand also nur ein Teil des Geistes.

Somit ist hier also nicht irgendein heiliger Geist oder Über-Ich gemeint.

Außerdem zielt dein Interpretationsansatz in die falsche Richtung, denn hier ist ja kein Baum gemeint, der wird nirgendwo im Text erwähnt, sondern es wird von Anfang ein Blumenbild bis zum Schluss verfolgt:

Blumenkind, Knospen, Blütentraum, Blätter, Gedankenunkraut, Wurzelsilben bis hin zu den letzten grünen Trieben.

Die Ansprache, die in diesem Text erfolgt, richtet sich also an den eigenen Geist, denn der Protagonist beklagt bei diesem die Verwirrung des eigenen Verstandes.

Das Ungeziefer sind die Typen, die einem im Leben so begegnen und an der Welt verzweifeln lassen, weil sie immer nur eines wollen, nämlich den Menschen für ihre eigenen Zwecke auszunutzen. Sie saugen an ihm wie es Parasiten nun mal so machen. Es geht nur um materielle Dinge und Macht, egal was dabei zerstört wird.

Dazu gehört Gedankenunkraut ebenso wie, Läuse, Wanzen und Milben, die sich auf Kosten anderer bereichern.

Ich schätze also, hier lag tatsächlich ein Interpretationsproblem vor.

Aber dafür haben wir ja den gemeinsamen Austausch…

Vielen Dank für deine Gedanken zum Thema…


Moin syranie,

deine Interpretation zeigt genau in die richtige Richtung mit einer Ausnahme.
Du gehst davon aus, dass Geist und Verstand dasselbe sind. Dass dies aber nicht so ist, habe ich in meiner Antwort an Erich schon erläutert.

Der Rest allerdings trifft ziemlich genau meine Intentionen.

Im Laufe des Lebens haben sich wohl die meisten Ansichten verändert, denn es eröffnen sich immer wieder neue Blickwinkel.
Manche kann man einfach nicht verstehen (also mit dem Verstand erfassen).
Ein junger Mensch weiß von vielen Dingen noch nichts und muss in ebenso vielen Dingen später umdenken, weil sein Spiegelbild von dieser Welt eben doch nicht so ist, wie es sich ihm zunächst darstellt.

Dein Fazit ist ebenso gelungen. Der Text ist ein Hilferuf an die Vernunft und die verlorene einstige Unbeschwertheit.

Und da es dem Autor und dem Protagonisten an einem religiösen Glauben und somit einem Gott mangelt, kann dieser Aufruf nur an den eigenen Geist erfolgen.

Vielen Dank für diese Interpretation, zeigt sie mir doch, dass dieser Text nicht unverständlich ist…


Ich bedanke mich für eure Kommentare…

Liebe Grüße

Bis bald

Falderwald


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Oh, dass ich große Laster säh', Verbrechen, blutig kolossal, nur diese satte Tugend nicht und zahlungsfähige Moral. (Heinrich Heine)



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