Thema: Erwachen
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Alt 13.06.2011, 00:44   #2
Falderwald
Lyrische Emotion
 
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Moin Stimme,

man lernt nie aus, denn ich musste jetzt erst einmal nachschlagen, was denn nun wohl unter einer Asklepiadeischen Ode zu verstehen sei.
Was ich fand, war die Asklepiadeische Strophe, die nach dem griechischen Dichter Asklepiades benannt wird und die aus je zwei 12-silbigen, einer 7-silbigen und einer 8-silbigen Zeile besteht.

Diese Anforderung erfüllt dein Text.

Das Metrikschema dieser Versform sieht folgendermaßen aus:

XxXxxX I XxxXxX
XxXxxX I XxxXxX
XxXxxXx
XxXxxXxX

Wie man erkennen kann, entsteht in der Mitte der ersten beiden Zeilen der seltene Fall eines Hebungspralles, der zusätzlich mit einer eindeutigen Zäsur noch unterstrichen werden sollte.

Nun, dann wollen wir mal sehen, ob dein Gedicht auch diesen Test übersteht:

Dieser Morgen ist schön, Freude und Sonnenschein
schenken Hoffnung; denn Glück, Leben und Liebe sind
heute machtvolle Spender.
Farben leuchten in reinster Pracht.

XxXxxX I XxxXxX
XxXxxX I XxxXxX
XxXxxXx
XxXxxXxX

Dieser Morgen ist schön, alles erstrahlt im Glanz
junger Tagesgeburt. Tautropfendiamant,
du erneuerst die Kräfte,
gibst dich selbstlos dem Dasein hin.

XxXxxX I XxxXxX
XxXxxX I XxxXxX
XxXxxXx
XxXxxXxX

Dieser Morgen ist schön, weich und behutsam legt
sich ein streichelndes Licht über die neue Welt;
eine Decke aus Wärme,
zart wie Spinnweben, schwerelos.

XxXxxX I XxxXxX
XxXxxX ? XxxXxX
XxXxxXx
XxXxxXxX

Dieser Morgen ist schön, frohes Erwachen wird
jedem Menschen zuteil. Einmal sei nichts als dies
unser treuer Gefährte;
frei von Kummer und Einsamkeit.

XxXxxX I XxxXxX
XxXxxX I XxxXxX
XxXxxXx
XxXxxXxX

Dieser Morgen ist schön, Schicksal, sei gnädig, lass
diese Stunden bestehn. Halte sie fest, damit
alle Sorgen verschwinden.
Gib uns Heilung und Zweisamkeit.

XxXxxX I XxxXxX
XxXxxX I XxxXxX
XxXxxXx
XxXxxXxX

Dieser Morgen ist schön, einfach nur wunderbar,
ewig will ich hier sein, ewig zusammen mit
dir, der Liebe zu dienen.
Nur wir beide, für alle Zeit.

XxXxxX I XxxXxX
XxXxxX I XxxXxx
XxXxxXx
XxXxxXxX

In S3/Z2 hätte ich mir in der Mitte eine deutlichere Zäsur gewünscht, jedoch ist das wohl im Gesamtzusammenhang nur ein unbedeutender Makel.

Hingegen steckt in S6/Z2 ein echtes Metrikproblem.
Es sieht korrekt aus und ich weiß, wo du hinwillst, aber mein natürlicher Sprachrhythmus will da nicht mit, denn hier zwingt der Satz zeilenübergreifend zur Betonung:

...,ewig zusammen mit dir,...

Und hier kann ich "mit" unmöglich betont lesen, das funktioniert nicht.

Alles andere ist korrekt und weil diese Strophenform ein sehr kompliziertes Reimschema besitzt, weiß ich, daß das gar nicht so leicht zu bewerkstelligen ist. Und dafür ist diese Aufgabe im Großen und Ganzen gut gelöst worden.

Kommen wir zum Inhalt:

Dieser Morgen ist schön, Freude und Sonnenschein
schenken Hoffnung; denn Glück, Leben und Liebe sind
heute machtvolle Spender.
Farben leuchten in reinster Pracht.

Ein sehr schöner und optimistischer Einstand, denn Hoffnung, Glück, Leben und Liebe spiegeln die positiven Seiten des Daseins.
Und wenn diese Faktoren gegeben sind, dann ist der Morgen wahrlich schön und man kann sich des Lebens erfreuen.

Dieser Morgen ist schön, alles erstrahlt im Glanz
junger Tagesgeburt. Tautropfendiamant,
du erneuerst die Kräfte,
gibst dich selbstlos dem Dasein hin.

Auch diese Strophe weiß zu gefallen. Glanz und Tautropfendiamant (schöne Metapher) begleiten die Tagesgeburt. Daraus kann man neue Kräfte schöpfen und sich unbesorgt dieser Pracht hingeben.
Einzig die junge Tagesgeburt will mir nicht so recht gefallen. Was ist eine junge Geburt? Vielleicht wäre die neue Tagesgeburt besser, denn dies ist ja ein Vorgang, der sich ständig neu wiederholt.

Dieser Morgen ist schön, weich und behutsam legt
sich ein streichelndes Licht über die neue Welt;
eine Decke aus Wärme,
zart wie Spinnweben, schwerelos.

Auch hier finden sich schöne Metaphern. Licht und Helligkeit tauchen alles in ein sanftes Bild und könnten auch für die Zärtlichkeit zweier Liebender stehen, die sich sanft wie Spinnweben berühren und gegenseitig Wärme geben.
Wenn du oben "junge" gegen "neue" austauschst, haben wir hier wieder eine Doppelung bei "neue Welt". Da lässt sich aber sicherlich ein anderes passendes Adjektiv finden. Aber ich will nicht alles vorgeben, mach dir mal selbst Gedanken darüber, wie man das ersetzen könnte, denn neu ist diese Welt ja eigentlich nicht, nur der Tag, oder?

Dieser Morgen ist schön, frohes Erwachen wird
jedem Menschen zuteil. Einmal sei nichts als dies
unser treuer Gefährte;
frei von Kummer und Einsamkeit.

Nun, ob jedem Menschen ein frohes Erwachen zuteil wird, ist eine Frage.
Da der zweite Teil eher einen wünschenden Charakter für die Menschen besitzt, würde es trotz der Doppelung des Wörtchens "sei" besser passen, wenn das "wird" ausgewechselt wird. Dann hieße es: frohes Erwachen sei jedem Menschen zuteil. Die Doppelung ist nicht schön, ich weiß, aber es wäre logischer.

Dieser Morgen ist schön, Schicksal, sei gnädig, lass
diese Stunden bestehn. Halte sie fest, damit
alle Sorgen verschwinden.
Gib uns Heilung und Zweisamkeit.

Hier hadere ich etwas mit dem Schicksal. Das Schicksal ist so unbestimmt, als ob man es wie eine höhere Macht ansieht, die man um etwas bitten kann.
Ich weiß, daß es sich hier um ein romantisches Gedicht handelt, aber ich kann den Philosophen nicht ganz außen vor lassen und du willst ja wissen, wie deine Worte auf mich wirken.
Der Rest ist wieder wunderschön, welcher Mensch würde sich nicht dasselbe in so einer Situation wünschen.

Dieser Morgen ist schön, einfach nur wunderbar,
ewig will ich hier sein, ewig zusammen mit
dir, der Liebe zu dienen.
Nur wir beide, für alle Zeit.

Die letzte Strophe schließt sich nahtlos an die vorige an und mündet in einer schönen Liebeserklärung. Aber auch hier gibt es eine Stelle, mit der ich mich nicht ganz anfreunden kann. Ich möchte eigentlich nicht der Liebe dienen, das sollte eigentlich umgekehrt sein, denn die Liebe ist für uns Menschen da und nicht umgekehrt. So finde ich jedenfalls, deshalb würde ich sie lieber genießen. Und genau dieses "genießen" würde auch das "zu dienen" metrisch einwandfrei ersetzen und den Sinn mehr treffen. Was meinst du?


Alles in allem ein schönes und sehr verträumt-romantisches Gedicht mit einer interessanten Strophenform, die mir als Leser mal wieder etwas Neues jenseits der altbekannten Metren geboten hat.
Insgesamt bis auf die benannten kleinen Schwachstellen gut umgesetzt, so daß hier ein Lob durchaus angebracht ist.


Gerne gelesen und kommentiert...


Liebe Grüße

Bis bald

Falderwald
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Oh, dass ich große Laster säh', Verbrechen, blutig kolossal, nur diese satte Tugend nicht und zahlungsfähige Moral. (Heinrich Heine)



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