Thema: Orkan
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Alt 07.01.2012, 09:40   #5
Stimme der Zeit
Erfahrener Eiland-Dichter
 
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Hallo, Galapapa,

wenn du erlaubst, gehe ich am Beginn meines Kommentars auf die Versmaßfrage ein. Als Beispiel nehme ich ein paar Verse.

Zitat:
Mit /leisem / Donnern / pocht die / an / Fenster / den,
Das ist ein sechshebiger Trochäus mit Auftakt. Ich zeige hier die "Takte" auf. Würde ich diesen Vers als Jambus nehmen, müsste ich die Takte "in" die Worte setzen:

Zitat:
Mit lei/sem Don/nern pocht / die / an Fen/ster/den,
Wie ersichtlich, taktet hier der Jambus nur bei "die Bö" gut. Daher würde ich den Vers als Trochäus mit Auftakt nehmen - und entsprechend diesem Rhythmus betonen.

Genau genommen handelt es sich um einen Alexandriner. Die feste Zäsur liegt bei diesem speziellen Versmaß nach der 6. Silbe, die immer eine betonte ist:

Zitat:
Mit leisem Donnern pocht / die an Fensterden,
Es liegt auch die typische Zweiteilung des Inhalts vor. "Mit leisem Donnern pocht (was? - Erklärung folgt) die Bö an Fensterläden".

Die inhaltliche Zweiteilung und das alexandrinische Versmaß sind in diesem Vers hier sogar absolut perfekt, wenn man den Alexandriner ganz "streng" betrachten möchte:

Zitat:
Zum lauten Schlachtfeld wird / des Waldes stilles Schweigen,
Ich gehe noch weiter, denn auch der Takt ist hier perfekt:

Zitat:
Zum/ lauten/ Schlachtfeld/ wird // des/ Waldes/ stilles/ Schweigen,
Lieber Galapapa, du hast hier tatsächlich einen "perfekten" Vers. Takt, Rhythmus, Versmaß, Inhalt - absolut "top"! (Warum also nicht alle Verse so schreiben - nun, ich fürchte, das würde einen negativen Effekt haben. So absolut "gleichförmig" durchgezogen, würde der Rhythmus nämlich mit Sicherheit "einförmig leiern". )

So, wie es hier im Gedicht ist, herrscht "Abwechslung", und das ist gut so!

(Der "Unterschied" von Trochäus mit Auftakt und einem Jambus liegt vor allem daran, wo die "Mikropausen" liegen. Beim Trochäus mit Auftakt erfolgt nach der 1. Silbe eine dieser Pausen, beim Jambus liegt die erste Pause nach der 2. Silbe im Vers. Daher auch meine Ansicht über die "Musik" in Gedichten, denn es geht um Takt, Rhythmus und Melodie. Extrem komplex, denn das führt vom künstlichen, schriftlichen Metrum über die Prosodie bis hin zur Musik. Beim Metrum handelt es sich um Abfolgen betonter und unbetonter Silben. Bei der Prosodie geht es um Heben und Senken der Stimme, Kürzen und Dehnen von Silben und bei der Musik - hier bin ich noch "in den Kinderschuhen" um Lautstärke, Rhythmik, Artikulation und Pausen; Tongruppen, Motive, Phrasen - ich kann nur sagen: Au weia, unterhalten wir uns in 10 Jahren nochmal, dann habe ich das alles evtl. wirklich "verinnerlicht und verstanden" ... )

Die meisten Verse in diesem Gedicht lassen sich am besten als Alexandriner und Trochäen mit Auftakt ansehen, bei einigen ist es "teils-teils", sie beginnen (rein auf die "Takte" bezogen jambisch), der Jambus"takt" kann aber nicht bis zum Ende fortgesetzt werden.

Nur zur Klärung: Mit irgendeinem "falsch" hat das gar nichts zu tun! Auch nicht damit, dass ich hier angeben möchte. Aber ich sehe schon, wenn es Irrtümer über Versmaße gibt und ich teile gerne mein Wissen - d. h. das, was ich gelernt habe.

Es gibt auch Verse, wo das alexandrinische Versmaß nicht "perfekt" ist, aber nur die Mittelzäsur betreffend. Ich bin nicht akribisch, nein. Denn eigentlich ist es, ganz formal gesehen, kein Alexandriner, weil dieser xXx, das heißt, mit einer weiblichen Kadenz enden muss. Ich kann es gut rhythmisch lesen, da es konsequent immer 6 Hebungen sind. Ein Beispiel:

Zitat:
verschlingt/ nun to/send wil//des Schwarz/ das blas/se Licht,
So sähe der hier jambische Takt gemeinsam mit der Zäsur nach der 6. Silbe aus. Ich bin doch überhaupt nicht streng, lieber Galapapa (und liebe Eilandfreunde)! Ich nehme es ja nie so genau, wie ich könnte (will ich doch auch gar nicht). Superakribisch gesehen bestünde das Gedicht aus Alexandrinern, Trochäen mit Auftakt und Teil-Jamben.

Es ist aber ein sehr schönes, gelungenes Gedicht! Eben "trotz" meinen Anführungen hier, ich genieße es beim Lesen, es gefällt mir sehr gut. Warum? Weil es so ist, dass die Konzentration auf ein absolut einheitliches, "perfektes" Versmaß gerne dazu führt, dass der Inhalt sehr darunter leidet - dann kann es nur zu leicht passieren, dass er von den Ansprüchen der "strikten Form" untergraben wird. Das sollte daher nie geschehen, das wäre einem guten Gedicht wie diesem hier in den meisten Fällen eher abträglich. Der Inhalt soll ja von der Form unterstützt, verstärkt, hervorgehoben werden - und nicht unter ihr "begraben" ...

Von daher, lieber Galapapa, meine ich es immer ehrlich, wenn ich ein Gedicht wirklich lobe - so, wie dieses hier. Ich kann gut in einen Rhythmus finden und der Inhalt ist sehr schön. Mein Fazit: Ein sehr gutes Gedicht!

Zum Inhalt:

Da ich in Stuttgart wohne, habe ich den Orkan mitbekommen. Es wurde ja auch eine Wetterwarnung herausgegeben. Hinter dem Haus konnte ich sehen, wie sich die Bäume und Sträucher "durchbogen". Nicht nur, dass es stark regnete, hier bei mir war es sogar teilweise ein "Starkschneeregen".

Ich wollte zuerst auch ein paar Stellen hervorheben, aber die Formulierungen sind wirklich insgesamt sehr schön, ich kann also nicht sagen, was mir nun ganz konkret am besten gefällt - auch mir gefällt "alles".

Daher sage ich: Es ist dir sehr gut gelungen, die "Gewalt" des Orkans in deinen Versen "einzufangen" - d. h. sie nicht nur "darzustellen". Ich empfange beim Lesen deutliche "Bilder" und empfinde ein "Gefühl" der - ja - "Unruhe bzw. Besorgnis". Dein Gedicht ist ernsthaft gelungen, weil der Inhalt zu mir "herüberkommt".

Für mich ist eines der wichtigsten Kriterien für ein "gutes" Gedicht der "Transport" des Inhalts zum Leser. Und das ist hier sehr gut gelungen, denn ich assoziiere beim Lesen einen Orkan mit allem, was "dazugehört".

Ich stimme Chavi zu: Sehr kraftvoll und sehr poetisch. Besser könnte ich es auch nicht ausdrücken.

Sehr gerne gelesen und kommentiert.

Liebe Grüße

Stimme
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