Thema: Mein Freund
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Alt 23.07.2017, 14:13   #1
AAAAAZ
Wortgespielin
 
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Standard Mein Freund

Früher, mein Freund, so erzählen sie einem,
da war man mit sich und den Worten im Reimen.
Die flossen gewand und ergossen präzise
sich äußerst galant über Satzparadiese.
Durch diese ergab sich im Satzbaugefilde
ein Sinn, und ein Leser war bestens im Bilde.

Früher, mein Freund, so erzählen die Märchen,
da war noch der Texter der Herr seiner Härchen,
und raufte sie sich zu verschwurbelten Sätzen.
Zu klugem Gerede mit Sinnfreiheitsfetzen,
in endlosen wohlfeilen Retrokopien
hat sich manches Herz mit den Händen verschrieben.

Früher, mein Freund, da war alles viel besser,
man stach kultiviert zu mit Gabel und Messer,
Gedichte, so nett, in der Form mit vier Strophen,
da zählten die Dichter zu Reimphilosophen.
Und rein war ihr Denken, ihr Tun und ihr Handeln
der Form wurd gehuldigt, die brauchte kein Wandeln.

Und heute, mein Freund, da sind wir uns wohl einig?!,
erscheint uns dein Weg zu der Dichtkunst noch steinig,
Zu frei ist dein Wort, und zu frei sind die Verse,
da grenzt, mit Verlaub, jedes Wort ans Perverse.
Du hast uns mit deinen Worten verraten:
Glückselige Insel, ein Eden mit Garten.

Wer sich hier nicht anpasst, mein Freund, der wird bluten,
den schmeißen wir heimich umnachtet in Fluten.
Du weißt, dass wir all diesen neuen Schund hassen?!
Drum können wir selbst von dem Spott nicht mehr lassen.
Wir wandelten selbstzufrieden durch Hallen,
beweihräuchert wurden die Reime von allen,

die neuen, die sich keinen Reim mehr drauf machten,
die müssen wir leider aufs tiefste verachten.
Ich weiß nicht, warum ich dir dies all erzähle,
will nur nicht dass falsche Erwartung die quäle,
und drum nichts für ungut, bist halt unerfahren,
du kennst noch nicht uns und das Inselgebaren.

Geändert von AAAAAZ (27.07.2017 um 11:42 Uhr)
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