Thema: Weltenlärm
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Alt 21.05.2016, 16:30   #3
Erich Kykal
TENEBRAE
 
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Hi charis!

Vielen Dank für deine Gedanken!

Was mich an Facebook, Twitter usw. so nervt (ich muss vorausschicken, dass ich meine Infos aus dritter Hand habe, aus Dokus darüber oder sonstwie - ich war nie "dort" und habe es auch nicht vor), ist die Banalität: Wenn ein User stolz das xte Kotzehäufchen seines Sprösslings postet - oder diese Spacken, die jede ihrer Mahlzeiten fotografieren und die Bilder mit archivarischer Gründlichkeit online stellen, als wäre dem irgendeine Relevanz zu eigen - da denk ich mir: Haben die nichts Wichtigeres zu tun?
Aber das Niederschmetternste daran ist, dass solche Postings mitunter tatsächlich ein erkleckliches Maß an "Friends" oder "Followers" finden, die sowas offenbar interessant genug finden, es zu verfolgen! Und das sind keine Verwandten oder sonstwie sozial Nahestehende - nein, wildfremde Menschen vom anderen Ende der Welt! DAS tut weh, einfach nur weh im Hirn - da fragt sich ein Mensch mit Gehirntätigkeit kopfschüttelnd, welcher Spezies er eigentlich angehört! Sind wir noch nicht weit genug entwickelt - oder schon so degeneriert, dass wir die Auslagen unserer selbst mit solchem nichtssagenden Müll verkleistern?

Gut, ein Auswuchs, könnte man einwenden. Man sagt ja ganz richtig, dass über solche "social networks" auch Gutes und Verbindendes transportiert wird. Ich verleugne dies nicht, aber als Außenstehender gewinnt man schon den Eindruck, dass da hauptsächlich Gedankenmüll zu einer öligen, schmierigen Gesamtkonsistenz gerinnt, der wie Treibsand für die Denkfähigkeit zu sein scheint: Man versinkt in dieser wärmenden, klebrigen Masse der Mittelmäßigkeit und des Banalen, fühlt sich eingebunden und gestützt - und hört auf nachzudenken, WAS da geschieht und WOMIT man sich so beschäftigt - und plötzlich sind beliebige Ausflugsfotos oder Selfies von völlig Unbekannten wichtig und bedeutsam genug, uns weiter zu betäuben, abzulenken und einzulullen. Uns so verbringen wir die Zeit, die wir kreativ nutzen könnten, in der überall gleichförmigen Sülze dieser Medien, wo alles gleich wichtig - oder unwichtig ist, weil die ersten neuen Haare auf der frisch behandelten Glatze des stolzen Smartphonebesitzers mit der gleichen Berechtigung und dem gleichen Anspruch auf Bedeutung dort transportiert werden wie philosophische Abhandlungen oder Doktorarbeiten!

Manche mögen das für "demokratisch" halten und werfen mit Begriffen wie "weltoffen" oder "Gleichberechtigung" um sich - ich empfinde es als potentiell gefährlich! Schon die alten römischen Kaiser wussten: Gib der tumben Volksmasse "panem et circenses", und du kannst beinahe alles mit ihr oder vor ihrer Nase machen, ohne dass sie aufbegehrt!
Die heutigen "Belustigungen" sind neben YouPorn usw. eben diese Netzwerke der geistigen Niederungen und Erniedrigungen. Das begann im letzten Jahrhundert mit diesem "Schlüsselloch-TV", wie ich es nenne: Anderen bei einer Behauptung von "normalem" Leben zuzusehen in Serien wie "Big Brother", oder die sensationsgeileren Varianten wie "Dschungelcamp", "Ich bin ein Star, holt mich hier raus", "Die Alm", "Die Burg" usw... - es gibt da zig Formate, die das Tiefste und Niederste im Menschen ansprechen: Voyeurismus und billige Sensationen, über die man sich das Maul zerreißen kann! Was früher Marktgeschwätz war, sind heute die Shitstorms im Internet: Es wird beliebig und ohne Beweisbarkeit behauptet und ausgegrenzt, beleidigt, bedroht und erniedrigt, Rufmord betrieben und Hetze kolportiert - ein mittelalterlicher Mob, der die Verbrennung der Hexe fordert!

Nein, ich halte nicht eben viel von der menschlichen Natur. Wir sind zu Großem fähig, aber selten gelingt dies, und meist nie als Gemeinschaft, sondern bloß in Einzelfällen, die wir oft genug genüßlich hinrichten, weil sie bestimmten Normen nicht entsprechen oder diese hinterfragen - nur um sie Generationen später, wenn die Allgemeinheit intellektuell aufgeschlossen hat, zu Helden, Vorbildern und Vorreitern zu stilisieren! Jämmerlich ...
Wir waten bis Oberkante Unterlippe im Partymüll der eigenen Bedeutungslosigkeit und tun so, als wäre ALLES gleich wichtig. Das wird so nicht auf Dauer gut gehen.


Zu deinen Anmerkungen:

Das Ganze beginnt mit einem akkustischen Gleichnis: Der zarte Klang des Wesentlichen gegen das tosende Rauschen des Banalen.

Die Munde sind es, die ständig brüllen, unsere Aufmerksamkeit heischen mit greller Nebensächlichkeit. Wenn alle Munde der Welt brüllen wie Vieh auf der Weide, mittelt sich jeglicher Inhalt heraus, und alles wird zu einem gewaltigen Hintergrundrauschen der Belanglosigkeit!

"umzuhängen" fügt sich hier gut in die Sprachmelodie ein. Sonderlich unlyrisch finde ich es nicht. "Aufzudrängen" habe ich bedacht, aber "(be)drängen" habe ich schon als Reim in S1Z4 verwendet - und ich wiederhole mich nicht gern.

Das Musikgleichnis zieht sich durch das ganze Gedicht: Klängen/sängen, Lieder. Deine "leisen Töne" würden dazupassen, aber "leise" habe ich S2Z1 schon verwendet, und - wie gesagt - ich wiederhole mich ungern (Es ist ein kleiner persönlicher Ehrgeiz von mir, immer unterschiedliche Adjektive innerhalb eines Gedichts zu finden).

"Sei still, um zu hören!" sagt ein weises Wort des Ostens. Die innere Stille, wenn die eigenen Bedürfnisse schweigen, öffnet uns erst einander, befähigt uns erst, die "leisen Lieder" anderer zu hören, auf die es wirklich ankommt: Nicht die betäubende Oberfläche, in der wir uns vezetteln, sondern die tiefen, aber leisen Töne wahrer Verbundenheit und Liebe.

Depression, Burn-out, Lustlosigkeit, Überdruss, Aussteiger, Adrenalinjunkies --- so stellt blindes Leben sich (früher oder später) selbst in Frage. Warum wohl haben wir mehr denn je damit zu tun? Weil unserer Gesellschaft der Sinn, die Richtung und damit die gemeinschaftliche Seinsberechtigung abhanden kommt. Das sind die ersten Symptome des Niedergangs, wenn es keine umfassende geimsame Eigendefinition mehr gibt, keinen gemeinsamen Nenner, der dem Einzelnen als Ideal, als Ziel vor Augen steht, in das er sich einbringen kann.
Als Nächstes ruft man wieder nach dem "starken Mann", der alles in Ordnung bringt ...

Du könntest einwenden: Aber wir sind doch alle denkende Wesen! - Richtig, einzeln. Eine Gruppe von 50 Personen ist, soll sie vereint handeln, so intelligent wie ein Laubfrosch. Menschenmassen in Bewegung verhalten sich in Engstellen im Wesentlichen wie eine Gerölllawine, wie Schlamm mit Bröckchen - hat man herausgefunden, als man den idealen Fluchtweg für Stadien erfinden wollte.
Und neuesten Forschungen zufolge sind wir noch viel triebgesteuerter als wir je dachten: Man hat herausgefunden, dass beinahe alle unsere Entscheidungen im Stammhirn oder im Kleinhirn, also in den ältesten Strukturen unseres Gehirns getroffen werden. Man hat dies anhand der Muskelreaktionszeiten herausgefunden: Wenn das denkende Bewusstsein glaubt, gerade eine Entscheidung zu treffen, ist der Nervenimpuls an die Muskeln, die den Körper entsprechend bewegen, bereits unterwegs! Das bedeutet, eine tiefere, uns nicht bewusst zugängliche Ebene unseres Hirns hat diese Entscheidung bereits getroffen, und das ganze "bewusste" Prozedere ist nur noch eine Art Selbstillusion, eine Rechtfertigung für das Ego.
Denkt man dies weiter, bedeutet dies, dass wir eigentlich nur eine Art aufgesetzte Ichsimulation pflegen, die glauben darf, sie treffe die Entscheidungen, über die sie nachdenkt, aufgrund bewusster Überlegung und Rationalität. In Wirklichkeit versorgt sie sich nur selbst mit Erklärungen für Entscheidungen, die "aus dem Bauch heraus" schon längst getroffen sind, und es darf sich diese nachträglich schönreden. Scheinbar, so mutmaßen die Forscher, dient unser bewusstes Selbst der Selbsterhaltung (wie der Name schon sagt ...) und Arterhaltung besser als wenn wir alle eine Art Gemüse wären, das wie Tiere rein instinktiv reagiert. Zusammenleben scheint in komplexeren sozialen Systemen als primitiven Herden oder Rudeln besser gewährleistet, deshalb leistete sich die Evolution dieses energieaufwändige "Extra" des persönlichen "Ich"-Gefühls. Auch der dadurch erzielte Fortschritt befördert die Überlebenswahrscheinlichkeit.
Aber es scheint widerlegt, dass das Leben entstand, gerade UM denkende, selbstbewusste Wesen entstehen zu lassen! Also keine Art von göttlichem Plan oder so, keine höhere Ordnung im Universum, die auf etwas abzielt. "Uns" gibt es nur, weil wir so besser überleben, nicht weil dies das Ziel aller Evolution wäre. Eigentlich ernüchternd - wie alle plausiblen Wahrheiten, mit denen wir uns schon abfinden mussten, seit wir ernstzunehmend forschen und nicht nur glauben wollen ...

Du siehst, mit dem "denkenden Wesen" Mensch ist es nicht weit her. Deshalb ist das Internet auch so ein treffender Spiegel unserer Natur: Ein wenig Vernunft, Gewissen und Bildung, zur Seite geschoben und ignoriert von Unmengen Belanglosigkeit und Schmutz aus den niederen Regionen unseres ach so edlen Wesens: Wichtigtuerei, Tratschsucht, Sensationsgier, Häme, Bosheit, Zanksucht, Wut, Arroganz, Sex, Lust, Perversion und und und ...


LG, eKy
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Weis heiter zieht diese Elend Erle Ute - aber Liebe allein lässt sie wachsen.
Wer Gebete spricht, glaubt an Götter - wer aber Gedichte schreibt, glaubt an Menschen!
Ein HAIKU ist ein Medium für alle, die mit langen Sätzen überfordert sind.
Dummheit und Demut befreunden sich selten.

Die Verbrennung von Vordenkern findet auf dem Gescheiterhaufen statt.
Hybris ist ein Symptom der eigenen Begrenztheit.
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