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Alt 10.03.2015, 10:33   #4
Friedhelm Götz
Schüttelgreis
 
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Hallo Thomas,

ich stimme dir zu, dass Enjambement zwischen Quartetten und Terzetten bei klassischer Formenstrenge nicht vorkommt. Aber Erich folgt hier seinem Meister Rilke, der sich in seinen Sonetten an Orpheus von solchen formellen Zwängen befreite. Auch moderne Lyriker tun das. So enthält der Sonettkranz "Görlitz" von Jan Wagner fast durchgehend Enjambements an diesen Stellen, ebenso Robert Gernhardt in seiner berühmten Sonettparodie "Materialien zur Kritik der bekanntesten Gedichtform italienischen Ursprungs".

Hi Erich,

den nicht so eindeutig unbetonten Auftakt in S2Z1 finde ich gar nicht so störend. Solche Grenzfälle begegnen uns auch bei den großen Sonettisten, nehmen wir als Beispiel von Goethe sein berühmtes Sonett "Natur und Kunst" und daraus die Terzette:

So ist's mit aller Dichtung auch beschaffen:
Vergebens werden ungebundne Geister
Nach der Vollendung reiner Höhe streben.

Wer Großes will, muss sich zusammenraffen;
In der Beschränkung zeigt sich erst der Meister,
Und das Gesetz nur kann uns Freiheit geben.

Ich habe an einigen Stellen die jambisch zu betonenden Silben fett markiert. Kein Rezitator würde diese Passagen je so betonen.

LG Fridolin
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Reime zu schütteln, gilt vielen als Nonsens von Spaßern, nichts Rechtes!
Aber die Spaßer mit Ernst suchen im Unsinn den Sinn!

Geändert von Friedhelm Götz (10.03.2015 um 19:09 Uhr)
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