Thema: Mutter Zeit
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Alt 08.04.2014, 19:14   #8
Falderwald
Lyrische Emotion
 
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Registriert seit: 07.02.2009
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Hallo poetix,

das ist ein sehr schönes Gedicht, dass mir ausgesprochen gut gefallen hat.
Das entsprang jetzt keinem Anstandslob, sondern ganz ehrlich gemeinter Überzeugung.

Es ist ein sehr tiefgängiger und nachvollziehbarer Text und zieht den Leser immer tiefer hinein.
Ja, so ist es, ist man geneigt zu sagen, denn es spiegelt die eigenen Erfahrungen in anschaulicher Weise und einer natürlichen Sprache.
Metrik, Reime, Sprachfluss, Interpunktion alles wunderbar.
So stelle ich mir geistreiche, formvollendete Lyrik mit einem logischen Gesichtspunkt vor.

Wir "kennen" uns noch nicht lange und ich weiß nicht, wie alt du bist und wie lange du schon schreibst, was auch eigentlich gar nichts zur Sache tut, aber das Gedicht zeugt von einer beachtlichen Reife, das möchte ich an dieser Stelle auch noch anmerken.

Allerdings bin ich ein anspruchsvoller Gast und finde meistens doch noch das ein oder andere Haar in der Suppe und so hoffe ich, dass du mit zweieinhalb kleinen Anmerkungen richtig umzugehen weißt.
Die eine ist eine formale und die andere eine inhaltliche, besser gesagt eine Aussage in einer ganz bestimmten Zeile, über die ich gerne diskutieren würde und die halbe kommt zum Schluss.

1. In Strophe drei doppelt sich in den ersten beiden Zeilen der Ausdruck "weiter". Das ist unschön und wirkt auch nicht als Binnenreim, weil die richtigen Reimendungen nicht zusammengehören.

Dass du nur immer stetig reist!
Und ziehst mich mit dir weiter fort
von jedem je geliebten Ort.
Auch mich formst du in diesem Geist.


Ersetz es durch "stetig" oder "ständig" oder ein anderes, dir passend erscheinendes Adjektiv, und das Problem ist gelöst. Falls es für dich jetzt auch eines ist.

2. Jetzt kommt die Zeile, bei der es mir sehr mulmig wird, weil da alles in mir schreit: Halt! Halt!

"Als ob es ohne dich nicht ginge!"

Das wäre ja schön, aber nicht praktikabel, so dass sich diese Frage eigentlich gar nicht stellt, bzw. diese Aussage eigentlich erübrigt.
Wir leben in einem Kontinuum, was ein kontinuierlich, lückenlos Zusammenhängendes heißt, besser gesagt in einem Raum-Zeit-Kontinuum.
So werden also Raum und Zeit sozusagen zu Eigenschaften dieses Kontinuums, indem alles (uns bekannte) Sein existiert.
Das eine kann ohne das andere gar nicht sein, weil sie erst zusammen die Grundlage für alles Sein bilden.
Das ergibt also im wahrsten Sinne des Wortes, dass ohne die Zeit tatsächlich nichts ginge.
Auch der Protagonist könnte ohne die Zeit nicht sein, er würde ihre Abwesenheit nicht einmal mehr merken.
Es wäre eine starre Welt in der sich nichts mehr bewegen könnte, weil es keine Zeit mehr dazu hätte.
Nichts würde sich rühren, nicht einmal ein Gedanke.

Deshalb habe ich da einen Vorschlag:

Ich weiß, dass ohne dich nichts ginge!
Doch streb ich, von dir frei zu sein;
denn einmal lässt du mich allein,
erlöst, am Ende aller (?) Dinge.


Ich finde, das verstärkt sogar noch die Schlussaussage.

Du magst vielleicht einmal darüber nachdenken.

Das Fragezeichen ist jetzt der halbe Punkt, eigentlich Peanuts.
Man könnte jetzt darüber diskutieren, ob das Ende des Protagonisten auch das Ende aller Dinge bedeuten soll und zwar in dem Sinne, dass er dorthin strebt, wo alle Dinge einmal enden werden oder, zeitlich bezogen, eben auf "seine" hier "meine" Dinge?

Das Gedicht hat mich auf jeden Fall zum Nachdenken angeregt und ich hoffe, dass mein Kommentar den gleichen Anstoß bei dir finden wird.


Gerne gelesen und kommentiert...


Liebe Grüße

Bis bald

Falderwald
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Oh, dass ich große Laster säh', Verbrechen, blutig kolossal, nur diese satte Tugend nicht und zahlungsfähige Moral. (Heinrich Heine)



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