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Alt 05.01.2012, 11:13   #2
Stimme der Zeit
Erfahrener Eiland-Dichter
 
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Hallo, Galapapa,

ich war gerade am "Suchen", das mache ich manchmal. Dabei habe ich deine "Herbstgedanken" gefunden. Es wundert mich, dass dieses traurige Liebesgedicht keinen Kommentar hat - ich glaube, das ist sicher nur irgendwie übersehen worden, das kommt vor. Mir gefällt es, daher hole ich das jetzt nach.

Zitat:
Ein alter Raureif überzieht mein Leben,
es brodeln schäumend düstere Gedanken.
Sag, Liebste, kannst du jemals mir vergeben,
den bitt‘ren Kelch, aus dem wir beide tranken?
Der "alte Raureif" (übrigens eine schöne Metapher) sagt mir, dass hier ein LI schon seit längerem von einem LD getrennt ist (das muss nicht unbedingt eine "räumliche" Trennung sein, es können auch die Gefühle sein). Ich schätze Gedichte, bei denen ich auch "zwischen den Zeilen" lesen kann. Hier kommt mir der Gedanke, dass es vielleicht einen "Auslöser", d. h. ein Ereignis gab, wodurch das LI (sicher nicht zum ersten Mal!) düstere Gedanken hegt. Gerade das "brodeln, schäumend" deutet für mich darauf hin, dass hier etwas "hochkommt". Das LI fühlt sich offenbar (noch immer, evtl. auch nach längerer Zeit?) schuldig, denn es folgt die Frage, ob ihm "jemals" vergeben werden kann. Ich denke, es ist eine "alte" Schuld, die aber vom LI offenbar nicht vergessen oder wirklich "bewältigt" werden kann. "Der bittre Kelch, aus dem wir beide tranken" - ich deute das dahingehend, dass das LI sich als den ursprünglich Schuldigen sieht, aber das LD sich (an Streit, Konflikten?) "beteiligte". Interessant, dass das LI aber das LD nicht als schuldig ansieht, das deutet auf (wenn auch "späte") Selbsterkenntnis hin.

Zitat:
So traurig bunt zieht Herbst in meine Sinne,
und meine Schuld fällt wie ein welkes Blatt.
Wenn ich das ewig alte Lied beginne,
das viel zu viele dunkle Strophen hat.
"So traurig bunt" finde ich eine sehr schöne Stelle. Das "bunt" steht für traurige Erinnerungen an Schönes, denke ich. Die "Buntheit" ging verloren, jetzt fällt die Schuld wie ein "welkes" Blatt. Dieses Blatt sehe ich ausgetrocknet und braun vor dem inneren Auge. "Das ewig alte Lied" - das LI begegnet diesen Gedanken nicht zum ersten Mal, sondern gerade durch diese Formulierung entsteht bei mir der Eindruck, dass schon "unzählige Male" mit der "Schuld" gerungen wurde. Die "dunklen Strophen" sagen mir, dass sich das LI wohl nicht nur einmal, sondern (in seiner "Rückschau") "vielfach" schuldig gemacht hat - aus seiner Sicht heraus.

Zitat:
Im Traum hab ich dein Lächeln oft gesehen,
hab mich so sehr nach deinem Kuss verzehrt.
Die Tränen ließen stets dein Bild vergehen,
und deine Lippen blieben mir verwehrt.
Das LI träumt oft vom LD. Ich glaube, es ist der Wunsch: Könnte ich alles doch ungeschehen machen, damit es wieder so schön ist, wie es früher war. Das LD wird immer noch geliebt, uns sehr vermisst. Das LI möchte dem LD wieder "nahe sein", die Metapher des ersehnten "Kusses" und dessen "Verwehrung" gefällt mir sehr gut. Diese Strophe sagt mir auch, dass das LI selbst im Traum von seiner "Schuld" verfolgt wird. Und die Sehnsucht nach dem LD lässt das LI ebenfalls nicht "los". "Tränen" - egal, wie lange es her ist, das LI leidet immer noch sehr darunter.

Zitat:
Bald zieht der Winter durch die leeren Tage,
der mit der Kälte um Vergessen wirbt,
bedeckt die Seele mit der bangen Frage,
ob mit dem Warten einst die Liebe stirbt.
Das LI wartet und hofft irgendwo, tief im Inneren, immer noch. Aber es wird "Winter", die Tag sind leer. Gleichzeitig wird befürchtet, dass die Liebe irgendwann durch die "Kälte", die vorherrscht, endgültig stirbt - ich vermute, das LI fürchtet das "für beide Seiten". Ich lese hier "mit heraus", dass das LI Angst davor hat, auch seine eigene Liebe könnte sterben - das LI möchte diese nicht verlieren. Weil sie doch etwas so Schönes war ...

Zwei kleine Vorschläge möchte ich gerne machen, nur aufgrund der Satzstellung und Interpunktion:

Zitat:
Sag, Liebste, kannst du jemals mir vergeben,
den bitt‘ren Kelch, aus dem wir beide tranken?
Hier ist es ein bisschen inversiv, wie wäre es damit:

Zitat:
Sag, Liebste, kannst du jemals mir vergeben:
Den bitt‘ren Kelch, aus dem wir beide tranken?
Das ist ein älteres Gedicht von mir, ich weiß, dass dir das heute nicht mehr passieren würde. Es ist nur so, dass es eigentlich zwei Inversionen sind, einmal das "jemals mir" und die im Versübergang. So wäre es ein klein wenig "unauffälliger".

Eine Alternative könnte auch sein:

Zitat:
Sag, Liebste, kannst du ihn mir je vergeben:
Den bitt‘ren Kelch, aus dem wir beide tranken?
Es ist nicht 100% optimal, da es Einsilber sind, aber so ist der "Kelchbezug" da, und die Inversion wäre weg. Die Betonung läge auf "ihn" (Kelch) und auf dem "je", das würde meines Erachtens nach gut passen. Nur ein Vorschlag, vielleicht bringt er dich ja auf die "richtige" Idee.

In diesem Vers wäre eine Korrektur ganz einfach, es genügt eine kleine Umstellung:

Zitat:
Im Traum hab ich dein Lächeln oft gesehen,
Möglich wären:

Zitat:
Ich hab dein Lächeln oft im Traum gesehen,

oder auch

Dein Lächeln hab ich oft im Traum gesehen,


Es ist ein schönes, trauriges Liebesgedicht. Ich habe es gerne gelesen und kommentiert.

Liebe Grüße

Stimme
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