Thema: Abgrundtief
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Alt 22.10.2011, 14:04   #2
Stimme der Zeit
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Hallo, Erich,

Zitat:
Wie ruft mich Schicksal manche Erdentage
an Wesentliches, und wie jämmerlich versage
ich vor den Zielen, die es mir daran gesteckt.
Bewirkte uns ein abgrundtiefes Schämen,
dass wir auf's Neue eine Chance bekämen,
ich hätte meine Schande nie versteckt!
Lassen wir dahingestellt, dass ich nicht an ein "Schicksal" glaube, denn dafür bräuchte es eine "höhrere Macht", die es mir "aufdrückt" - an die ich auch nicht glaube. Das nur zur Erklärung, warum ich eher analytisch an den Inhalt herangehe, ohne "Übereinstimmung" geht das nicht anders ...

Das LI wird hier vom Schicksal dazu aufgerufen, sich mit "wesentlichen" Dingen zu beschäftigen. Das macht mir das Eingehen darauf etwas schwierig, denn ich kann nicht wissen, was hier unter "Wesentlichem" verstanden wird. Darunter versteht schließlich jeder etwas Anderes. Das Schicksal "steckt die Ziele daran (daran=an das Wesentliche)"? Würdest du statt "daran" "dadurch" einsetzen, wäre es wesentlich schlüssiger. Dann ergäbe sich folgende Aussage: Das Schicksal ruft mich zum Wesentlichen, und durch diesen Ruf steckt es mir Ziele. Aber das Schicksal kann keine Ziele "an" das Wesentliche "stecken". *hüstel*

Auch beim "Verstecken der Schande" kann ich mit dem LI nicht konform gehen. Aber sich "abgrundtief zu schämen" und es dann "zu verstecken" ist eine Verhaltensweise, der oft zu begegnen ist. Es gälte auch hier zu definieren, was denn eine "so große Schande" ist, dass sie "versteckt" werden muss. Für mich müsste das etwas wirklich Extremes sein, denn ich bin der Ansicht, dass wir aus Fehlern lernen - also gebe ich sie zu. Etwas "Schandhaftes" dagegen habe ich bisher noch nicht begangen - neee, alle Leute, auf die ich vielleicht wütend war oder bin, leben noch und ich habe auch noch niemandes Existenz ruiniert oder Ähnliches. Vorsichtshalber: Ich spreche vom LI, und nicht vom Autor, alles klar?

Zitat:
Wie überirdisch scheinen solche Stunden
den armen Leuchten, die ihr Licht gefunden
für jene Augenblicke, die die Prüfung währt;
und ach, wie abgrundtief ist alle Schwärze
im hohlen Hintergrund der letzten Kerze,
die noch in uns und gegen alles aufbegehrt,

was wir nicht schafften oder nie erreichten
an großen Hürden, diesen niemals leichten,
die uns das Dasein in die Lebenswege stellt.
Die Abgrundtiefen ihrer hohen Schwellen
begraben mich Versager wie die Wellen
des dunklen Ozeans, den keine Kerze hellt.
Bei Strophe 2 habe ich wieder Schwierigkeiten, denn worauf beziehen sich die "überirdisch scheinenden Stunden"? In Strophe 1 ist die Rede von Scham, von Schande und von Chancen, die nicht gegeben sind. Also ich entnehme Strophe 1 die Aussage, dass Scham eben keine neue Chance gibt - und somit auch keine "überirdische Stunde". Da stehe ich auf dem sprichwörtlichen Schlauch, denn daraus ergibt sich ein Widerspruch, denn "überirdische Stunden" müssten aus einer neuen Chance entstehen, wenn du verstehst, was ich damit sagen möchte.

Da ich einfach den "inneren Zusammenhang" nicht finde, kann ich auch die nur "Augenblicke währenden Prüfungen" nicht mit dem "gefundenen Licht" der "armen Leuchten" verbinden, da hier wieder die "überirdischen scheinenden Stunden" im "Weg stehen". Ich müsste erkennen können, woraus diese Stunden bestehen und wodurch sie entstehen ...

Hier wäre die Lösung, wenn du "schienen" schreiben würdest, anstatt "scheinen". Aus dem "schienen" kann ich mir einen Bezug zu "Bewirkten solche ..." herstellen und eine Abstraktion vollziehen. Wie du siehst: Hier "hängt" der "innere Bezug" an zwei Worten, die leicht zu ändern sind.

Jetzt folgt eine Passage, die in sich schlüssig ist. Die "Schwärze des hohlen (nichtssagenden, leeren) Hintergrundes" (vergeudete Chancen, Hoffnungslosigkeit) passt sehr schön zur "Kerzenmetapher", die das kleine "Flämmchen Hoffnung" darstellt, das dem LI noch bleibt. Dieses "kleine Licht" wehrt sich gegen diese Schwärze, es "begehrt auf". Gegen "alles, was nicht geschafft oder erreicht wurde", gegen das "Scheitern" an den "Hürden des Lebens".

Zitat:
die uns das Dasein in die Lebenswege stellt.
Hier ein weiteres Problem. Das Dasein ist das Leben. Also stellt das Leben die Hürden in die Lebenswege. In Strophe 1 war es das Schicksal. Leben=Schicksal? Das ist, selbst wenn man an das Schicksal glaubt, nicht der Fall. Es ist möglich, zu glauben, dass alles, was im Leben geschieht Schicksal ist, aber man kann das nicht gleichsetzen.

Zitat:
Die Abgrundtiefen ihrer hohen Schwellen
begraben mich Versager wie die Wellen
Auch auf die Gefahr hin, dass du mir jetzt die Freundschaft "kündigst": "Abgrundtiefen" können nichts begraben. Eine "umstürzende" hohe Schwelle schon eher. Zudem: Schwellen selbst können keine Abgrundtiefen haben, diese könnten lediglich "vor", "neben", "um" oder "zwischen" den Schwellen sein. Zuletzt noch: erhellt ...

Und jetzt behaupte ich, dass jede Strophe für sich alleine genommen sinnvoll ist und durchaus gut gelungen! Das widerspricht sich nicht mit meinen vorhergehenden Aussagen, denn das Problem hier ist der fehlende, in sich schlüssige Zusammenhang der drei Strophen untereinander - nicht der Inhalt der einzelnen Strophen. Ich hoffe, du "folgst" meinem Gedankengang.

Ich versuche dir zu sagen: Es ist ein emotional sehr berührendes Gedicht, es ist zweifellos ein "echter Kykal", jede Strophe ist gelungen, das Metrum ist stringent und fehlerlos, die traurige Stimmung kommt sehr gut herüber und auch die Wiederholung von "abgrundtief" in jeder Strophe ist eine gut gemachte "Verbindung" mit dem Titel und der Aussage.

Ich werde hier einen "Verdacht" nicht los. Dieses Gedicht scheint mir zu schnell heruntergeschrieben zu sein, ein "Augenblicksempfinden", das "heraus wollte" und dabei sind der "rote Faden" und der "schlüssige Zusammenhang" ein wenig "auf der Strecke geblieben". Auf mich wirkt es wie ein "Impuls-Gedicht", denn so ergeben sich nur dem "Empfindenden" Zusammenhänge, denen der Leser nicht "folgen" kann, da ihm der "Hintergrund" fehlt.

Ich versuche mal etwas:
Zitat:
Wie ruft mich Schicksal manche Erdentage
an Wesentliches, und wie jämmerlich versage
ich vor den Zielen, die es mir dadurch gesteckt.
Bewirkte uns ein abgrundtiefes Schämen,
dass wir auf's Neue eine Chance bekämen,
ich hätte meine Schande nie versteckt!

Wie überirdisch schienen solche Stunden
den armen Leuchten, die ihr Licht gefunden
für jene Augenblicke, die die Prüfung währt;
und ach, wie abgrundtief ist alle Schwärze
im hohlen Hintergrund der letzten Kerze,
die noch in uns und gegen alles aufbegehrt,

was wir nicht schafften oder nie erreichten
an großen Hürden, diesen niemals leichten,
die uns das Fatum/Kismet in die Lebenswege stellt. - oder: die Fügung, oder, als gewollte Wiederholung ein zweites Mal Schicksal
Die Abgrundtiefen zwischen hohen Schwellen
verschlingen mich Versager wie die Wellen
des dunklen Ozeans, den mir kein Licht erhellt.
Nimm dir gerne, was du gebrauchen kannst. Es sind im Grunde nur ein paar wirklich sehr kleine Änderungen, die aber eine große Wirkung auf den inhaltlichen Zusammenhang haben. Ich hoffe, ich konnte dir helfen und du nimmst mir meine Kritik nicht übel - denn "mit" Zusammenhang ist es ein sehr schönes, gut gelungenes Gedicht! Und immer noch "deins".

Gerne gelesen und kommentiert.

Liebe Grüße

Stimme
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