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Alt 23.09.2011, 00:11   #5
Falderwald
Lyrische Emotion
 
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Hallo Erich,

ich komme zunächst einmal auf Stimmes Kritik an Zeile 2 in der dritten Strophe zu sprechen.

Also, ich sehe da auch ein metrisches Problem und zwar ein ganz gewaltiges, weshalb ich es nicht verstehe, daß du das korrekt lesen kannst.
Diese Zeile ist eindeutig metrisch inkonsequent und damit falsch, weil sie eine Silbe (eigentlich sogar zwei, aber dazu kommen wir später) zu viel hat, was man eindeutig abzählen kann.
Und da kann ich mir auch nichts mehr schön lesen.

"als Söldner unserer Utopien"

xXxXxxXxX(x)

Es muss heißen:

als Söldner unsrer Utopien,

xXxXxXxX(x)

sonst ist es kein reiner vierhebiger Jambus mehr.

Zudem bin ich der Meinung, daß das Wort Utopien nicht dreisilbig "Utopin", sondern U-to-pi-en, also viersilbig ausgesprochen wird.
Die hier vorgestellte dreisilbige Version ist mir völlig ungeläufig und habe ich so noch nie gehört.
Und deshalb solltest du in der letzten Zeile auch das "fliehn" in "fliehen" ändern.

Kommen wir noch einmal zu dem Begriff "Utopien".

Das wird eigentlich so betont: xxXx

Wir Stimme aber schon richtig anmerkte, gibt es in der deutschen Sprache keine drei unbetonten Silben hintereinander, so daß die mittlere von drei unbetonten stets leicht angehoben wird.

Hier: "unsrer Utopien" = XxxxXx = Xx(X)xXx

Aber "unserer Utopien" geht gar nicht: XxxxxXx = Xxx(X)xXx
Das ist eine Silbe zuviel, so oder so (s.o.).

Zitat:
Zitat von Erich
Das mit den 3 unbetonten Silben hintereinander wusste ich beispielsweise nicht. Auch wenn ich es dank "Gespürs" vielleicht nie irgendwie verwendet hätte - es hätte ja doch sein können...
Oh doch, das hast du sehr wohl schon verwendet:

Aus Mona Lisa:

"als gürteten sie deine Wohlgestalt"

Wenn du das Wort "gürteten" für sich alleine nimmst, würde es so betont: Xxx

Hier im Zusammenhang aber sieht es so aus:

"als gürteten sie deine Wohlgestalt"

xXxxxXxXxX = xXx(X)xXxXxX (nach obiger Regel).

Wenn du, wie du angibst, nie ein Kundiger der Materie werden wirst, sondern einfach nur Gedichte schreibst, dann besitzt du zweifelsohne ein gutes Bauchgefühl, welches dich aber in der hier beanstandeten Zeile eindeutig im Stich gelassen hat.
Und das sagt dir jetzt ganz unabhängig noch ein zweiter Kommentator.

Mach nun damit, was dir richtig erscheint.

So, kommen wir zum Inhalt:

Ob heiter froh, ob lamentierend,
es sucht ein jeder sich hienieden,
ob voller Zorn, ob resignierend,
zuletzt das Los, das ihm beschieden!


Es gibt wahrlich verschiedene Charaktere und so sind auch ihre Grundstimmungen verschieden, mit denen sie durch das Leben gehen.
Was mich hier allerdings skeptisch werden lässt, ist, ob sich wirklich jeder sein Los sucht. Ich denke, daß das Los in diesem Fall sich den Besitzer sucht, wenn es ihm beschieden ist, es trifft ihn also, weil sich sonst nämlich ganz klar die Frage auftut, von wem oder was ihm dieses Los beschieden wird.
Der Begriff "Los" ist ja hier nicht mit dem Lotterielos gleichzusetzen, sondern steht synonym für das Schicksal, das ein weites Begriffsfeld dessen umfasst, was einen Lebenslauf prägt oder beeinflusst.
Das sucht man sich nicht aus, das trifft einen.
Und das kann man durchaus mit dem Satz vom zureichenden Grund des Werdens beweisen. Hier finden wir die Ursache als empirische Wahrheit, weil die Kausalität nämlich bestimmt, daß alle Veränderungen von Objekten der empirischen Wirklichkeit immer eine Ursache haben müssen.

Er kann nicht anders, als sein Wesen
ihm unentrinnbar vordiktiert!
Stets hat er mit dem eignen Besen
die Schrift im Sande sich verschmiert!


Wenn hier "Wesen" mit Wille und Charakter gleichgesetzt werden kann, so stimme ich mit den ersten beiden Zeilen vollkommen überein.
Der Charakter eines Menschen verändert sich niemals und bestimmt seine Handlungen. Was sich hier ändern könnte, wäre lediglich die Art und Weise, wie diese Handlungen ausgeführt würde, aber am Grundprinzip wird sich nichts ändern.
Mit den letzten beiden Zeilen hadere ich ein wenig.
Sie sind zu allgemein und zu bestimmend in der Aussage, denn was heißt schon, sich mit dem eigenen Besen die Schrift im Sande zu verschmieren?
Da fließt mir zuviel subjektive Moral mit ein, denn es wird ein ungenanntes Ideal vorausgesetzt, wodurch versteckte Vorwürfe durch die Zeilen schimmern.
Nicht jeder muss diesem Ideal folgen, zumal, wie oben schon festgestellt, die Charaktere verschieden sind und ihre eigenen Wege gehen (wollen).

So stolpern wir durch Raum und Zeiten
als Söldner unserer Utopien,
und jeder Tag wird im Durchschreiten
zur Brücke, über die wir fliehn!


Hier müssen wir zunächst einmal den Begriff "Utopien" näher betrachten, weil jener ja den Kern der Aussage, sprich das Ziel, in dieser Strophe hergeben soll.
Unter Utopien verstehe ich fiktive Zustände an räumlich und zeitlich entfernten Orten, was gleichzusetzen wäre mit unrealisierbaren Plänen für die Zukunft.
Somit könnte man das salopp in etwa so ausdrücken, daß jeder seinen eigenen Hirngespinsten hinterher jagt.
So weit kann ich mitgehen, aber den Söldner kann ich in diesem Zusammenhang nicht mittragen.
Ein Söldner ist, abgesehen von seiner Rolle als Militärperson, immer jemand, der (gegen Bezahlung) die Interessen eines anderen vertritt und somit angeworben wird.
Die Utopien eines Menschen aber entspringen seinen eigenen Vorstellungen und Interessen, so daß die Metapher "Söldner" hier sehr unglücklich gewählt ist.
Der Begriff "Diener" träfe es da wohl besser oder wenn man es krasser ausdrücken möchte, Sklave.
Ich stoße mich auch ein wenig an dem Begriff "Zeiten" in der ersten Zeile.
Das ist inkonsequent, weil hier auch nur von einem Raum die Rede ist und zudem sachlich falsch, da es auch nur ein und dieselbe Zeit gibt.
Es gibt Zeitabschnitte, aber es sollte klar sein, daß diese nur Teilstücke ein und derselben Zeit sein können, die eine physikalische Größenart und somit eine Totalität ist, von der es nicht mehrere geben kann.
Zudem frage ich mich, wie man durch die Zeit stolpern soll, da sie es erst ist, die uns durch die Abfolge allen Geschehens "befördert".

Auch mit den letzten beiden Zeilen kann ich mich nicht anfreunden.
Wovor fliehen wir denn?
Vor unserem realen Dasein, vor uns selbst oder vor unseren Utopien und überhaupt, flieht tatsächlich jeder von einem Tag zum anderen?
Kann es nicht Menschen geben, die jeden Tag als Geschenk ansehen und diesen auskosten und genießen, weil sie vielleicht eingesehen haben, daß das Ideal, die eigene Utopie nur an jedem Tage selbst gelebt und verwirklicht werden kann, weil sie es in sich selbst gefunden haben?

Diese Fragen bleiben offen.

Fazit:

Für mein persönliches Empfinden ist der Text zu subjektiv gestaltet.
Bei diesem "hochtrabenden" Titel "Utopia humanis" fehlt mir der Abstand, die Objektivität zum beschriebenen Objekt, es ist zu einseitig, nämlich nur vom Standpunkt eines Betrachters geschildert, um als Allgemeinheit bestehen zu können.

Es kann so sein, sicherlich, aber es muss nicht.
Ich für meinen Teil finde mich hier nämlich nicht wieder und ich denke, daß ich mich da durchaus in guter Gesellschaft befinde, weil einige Menschen ihr "Utopia" bereits gefunden haben und genau wissen, was realisierbar ist und was nicht.
Ich für meinen Teil fliehe keinen einzigen Tag, ganz im Gegenteil, ich stelle mich jedem neuen Tag aufs Neue und pflege dabei mein kleines, persönliches Traumland, an dem ich gar nichts ändern möchte.

Lautete der Titel "Ein Utopia humanis", hätte meine Kritik anders ausgesehen.

Das ist nicht dein bester Text, trotzdem habe ich mich gerne damit auseinandergesetzt und meine Gedanken dagelassen, weil er eine interessante intellektuelle Herausforderung darstellte...


Liebe Grüße

Bis bald

Falderwald
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Oh, dass ich große Laster säh', Verbrechen, blutig kolossal, nur diese satte Tugend nicht und zahlungsfähige Moral. (Heinrich Heine)



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