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Alt 08.07.2011, 18:46   #2
Stimme der Zeit
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Hallo, Canberra,

"The first cut is the deepest" (Der erste Schnitt ist der tiefste), so heißt ein Song von Cat Stevens. Ich gebe zu, dass ich ihn nicht kannte, aber er ließ sich (per Suchmaschine) leicht finden.

Im Grunde genommen wird hier eine sehr traurige und melancholische Geschichte erzählt, allerdings wirkt sie auf mich ein wenig "distanziert". So, als ob sie schon längere Zeit Vergangenheit wäre und das LI den damaligen Schmerz heute nur mehr als eine Art "Echo" empfinden würde. (Ich vermute, woran das liegen könnte, darauf komme ich am Schluss noch einmal zurück.)

Inhaltlich gefällt mir dein Gedicht sehr gut. Der "rote Faden" zieht sich von Anfang bis Ende einwandfrei hindurch. Ich kann also problemlos folgen. Es beginnt mit dem "Man hat sich nichts mehr zu sagen und schweigt sich daher an", führt über das Leid zum "süßen Schmerz" der Erinnerung und von dort zu den sprichwörtlichen "Blicken, die Bände sprechen". Das LI schätzt offenbar "klare Verhältnisse", aber dennoch wird eine "letzte Anstrengung" unternommen. Die Hoffnung verführt zum Errichten eines "Kartenhauses" (eine sehr passende Metapher), das natürlich bei der leisesten "Erschütterung" in sich zusammenfällt. Dieser Einsturz wiederum lässt Wut aufkommen (hier sehr gut die "Diskrepanz" zwischen Wunsch und Wirklichkeit - akzeptiert und doch nicht akzeptiert), die zu gegenseitigem Verletzen führt. Das LI und das LD wissen es, aber sie sind an dem Punkt, an dem sie es nicht wissen wollen. In der Conclusio erkennt das LI dann, dass mit dem Beginn des "Schweigens" eigentlich alles schon zu Ende war. Der bunte Schmetterling im Schnee (ich stelle mir eine weite, weiße Fläche vor) bot schon damals den "Ausweg" an, aber das LI war noch nicht bereit, ihn anzunehmen. Der Schmerz des "ersten Bruchs" hinderte ihn/sie daran. Erst nach all dem "Ringen" mit sich selbst gelingt es dem LI, sich endlich zu befreien.

Formal kann ich sagen, dass das Metrum durchgehend stimmt. Der Wechsel vom Jambus zum Trochäus in der letzten Strophe unterstreicht den Inhalt: Es geht "aufwärts".

Etwas möchte ich allerdings anmerken:

Für ein melancholisch-reflektives Gedicht ist mir der Kreuzreim im vierhebigen Jambus mit männlichen und weiblichen Kadenzen ein wenig zu "aktiv", er wirkt zu "lebhaft". Der Inhalt ist traurig, aber die Form "flott"; besonders durch die "verkürzten" Verse mit männlichen Kadenzen im rhythmischen Wechsel mit den um eine Silbe längeren Versen mit weiblichen Kadenzen. (Ich meine übrigens alle meine Anmerkungen wirklich nur gut, vielleicht nützt es dir in Hinsicht auf künftige Gedichte.) Hier "widerspricht" die Form dem Inhalt.

Vor ein ähnliches "Problem" stellen mich die Versanfänge. Es wirkt durch die vielen Artikel und die Wiederholungen ein wenig "aufzählend" - was die "distanzierte" Wirkung verstärkt. Ich zeige es dir mal in Farbe:

Und
Dann
Die
Was
Natürlich
Doch
Im
Die
Ich
Vorbei
Doch
Und
Die
Und
Doch
An
Die
Das
Das
Einander
Und
Wie
Es
Doch

Bis auf drei sind alle Worte auch sehr kurz, mit nur 2 oder 3 Buchstaben. Das kann, wenn es wie hier (durch das Metrum) noch "verstärkt" wird, leicht wie eine eher "gefühlsneutrale" Aufzählung wirken.

Ich möchte auf jeden Fall festhalten, dass dein Gedicht absolut nicht schlecht ist, eine derartige Behauptung liegt mir fern. Inhaltlich ist es richtig gut gelungen, im Ernst!

Aber hier zeigt sich, dass eben auch die "Form" sehr wichtig sein kann. Gerade bei Gedichten mit einem stringenten Metrum übt sie eine oft unterschätzte Wirkung aus.

Meine Analyse soll dir lediglich Anhaltspunkte liefern, um in künftigen Werken auch das "Formale" und dessen Einfluss auf die emotionale Aussage mit einbeziehen zu können. Ich denke eben, dass dieses Werk, wenn die Form ebenfalls stimmen würde, ein sehr, sehr schönes Gedicht mit tiefer Wirkung sein könnte. Noch um einiges besser, als es ohnehin schon ist - denn es ist gut, nur nicht so gut, wie es möglich wäre.

Sehr gerne gelesen und kommentiert.

Liebe Grüße

Stimme
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