Gedichte-Eiland

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Chavali 06.07.2011 09:27

Balanceakt
 
Schwankende Brücke im herbstlichen Wind,
unendlich tiefer der Fluss;
sie zu bezwingen ein Muss.
Werd ich es schaffen, ertast ich mir blind

Schritte, die mehr als Balanceakte sind?

Hohl pfeift der Sturm, wo Balken sich biegen,
ächzen im Takt meines Gehens.
Mittelpunkt dieses Geschehens:
Haltlos sich die Gedanken bekriegen,
und in Verunsicherung wiegen.

Da ist schon das Ende des Grauens in Sicht,
ein Schritt noch vom schaukelnden Elend.
Der Fluss unter mir, er wirkt spülend
und reinigt verwirrendes Dickicht.
Dort hinten erblick ich erhellendes Licht.

Thomas 06.07.2011 11:42

Hallo Chavali,

das Gedicht spricht mich sofort durch die ganz hervorragende Idee an, das Bild einer schwankenden Brücke über ein tief eingeschnittenes Tal zu wählen, um es mit dem Aufbruch zu neuen Ideen oder neuen Lebensabschnitten zu verbinden. Den schwankenden Rhythmus hast du wahrscheinlich absichtlich gewählt. Auch die fünfzeilige Strophenform ist passen. Nur die dritte Strophe stört ein mich wenig. Kann die Frage der ersten Strophe nicht einfach offen bleiben? Ich finde es jedenfalls spannender, wenn das Ankommen nicht angedeutet wird. Aber das ist ja wieder mal Geschmackssache.

Viele Grüße
Thomas

Chavali 06.07.2011 15:09

Hallo Thomas,
Zitat:

das Gedicht spricht mich sofort durch die ganz hervorragende Idee an, das Bild einer schwankenden Brücke über ein tief eingeschnittenes Tal zu wählen, um es mit dem Aufbruch zu neuen Ideen oder neuen Lebensabschnitten zu verbinden
Das freut mich, denn dieses Thema hab ich immer mal wieder verdichtet.
Zitat:

Kann die Frage der ersten Strophe nicht einfach offen bleiben? Ich finde es jedenfalls spannender, wenn das Ankommen nicht angedeutet wird.
Das wäre auch eine Option, die mir entgegenkommt.
Hier in diesem Fall jedoch wollte ich absichtlich ein optimistisches Licht am Ende andeuten.
Bei Gelegenheit mache ich mal wieder einen offenen Text....

Danke dir!
Lieben Gruß,
Chavali

Stimme der Zeit 06.07.2011 19:17

Hallo, liebe Chavali:),

im Hinblick auf die Metapher der schwankenden Brücke schließe ich mich Thomas an. Ich hatte beim Lesen der ersten Strophe zunächst das Bild einer Hängebrücke mit Seilen vor Augen, bis ich dann in der zweiten von Balken las. Dort wechselte mein "gedankliches Bild" dann zu einer dieser alten Holzbrücken, die schon ein wenig morsch sind. Gut gewählt finde ich die Erwähnung des Sturms, denn ein Wind könnte Balken nicht biegen, dafür muss schon ein Sturm seine Wirkung ausüben.

Der Weg in die Zukunft ist oft ein Balanceakt, denn unvertrautes Gelände sorgt für ein "unsicheres Gefühl". Oft weiß man ja vorher nicht, ob die Brücke hält und was einen dann auf der anderen Seite erwartet ...

Mir gefällt allerdings gerade der "Lichtblick" in der dritten Strophe. Ich habe eine Schwäche für Hoffnung und Optimismus. :)

Ich hoffe, du fasst es nicht falsch auf, wenn ich dich bitten möchte, an ein, zwei Stellen noch ein bisschen "rund zu feilen". Wie du mittlerweile sicher bereits weißt, stören mich Kleinigkeiten ja nur bei Gedichten, die mir ansonsten sehr gut gefallen - gerade deshalb eben ... :o

Am Metrum habe ich nichts auszusetzen, mir ist klar, dass die "Schwankungen" der Versanfänge sicher beabsichtigt sind, es passt auch gut zum Inhalt. :)

Zitat:

Hohl pfeift der Sturm, die Balken sich biegen,
ächzen im Takt meines Gehens.
Hier musste ich ein wenig schmunzeln, denn mir kam sofort das Sprichwort "Lügen, dass sich die Balken biegen" in den Kopf. ;) Mein Vorschlag zur Güte wäre:

Hohl pfeift der Sturm, wo Balken sich biegen,
ächzen im Takt meines Gehens.

Im Sinnzusammenhang: Wo Balken sich biegen, wo Balken ächzen. Es würde, meiner Meinung nach, auch inhaltlich besser passen.

Zitat:

und in Verunsicherheit wiegen.
Es gibt "Unsicherheit" (was metrisch nicht passt) oder "Verunsicherung" (passend). Aber das Wort "Verunsicherheit" gibt es leider nicht. Es sei denn, es ist ein absichtlich von dir platzierter Neologismus - dann nehme ich alles zurück.

Jetzt natürlich noch ein Lob, denn ich weiß, dass du in solchen Dingen keine Fehler mehr machst:

Zitat:

Da ist schon das Ende des Grauens in Sicht,

und reinigt verwirrendes Dickicht.
Dort hinten erblick ich erhellendes Licht.
Hier bin ich mir sicher, dass "verwirrendes Dickicht" absichtlich unbetont endet. Es ist, im Gegensatz zu den anderen "positiven" Metaphern, ja auch eine "negative" Aussage. Dafür ein Kompliment, das finde ich sehr geschickt gemacht. :)

Der Fluss der Zeit spült die Vergangenheit weg, denn er fließt unaufhörlich. Er trägt die schlimmen Erinnerungen und Ängst mit sich fort, und das ist gut so.

Sehr gerne gelesen und kommentiert. :)

Liebe Grüße

Stimme http://www.smilies.4-user.de/include..._devil_006.gif

Chavali 07.07.2011 10:21

Hallo liebe Stimme,


vielen Dank für deine wieder sehr ausführliche und sachliche Rezension.
Es ist schon schön zu lesen, wieviele Gedanken du dir machst.
Zitat:

Ich hoffe, du fasst es nicht falsch auf, wenn ich dich bitten möchte, an ein, zwei Stellen noch ein bisschen "rund zu feilen".
Nein, gar nicht, es ist doch das Salz in der Suppe, Feedback zu bekommen und die Meinungen der Leser zu sehen.
Zitat:

Mein Vorschlag [...] wäre:

Hohl pfeift der Sturm, wo Balken sich biegen,
Ja, klar: ich habs sofort geändert. Komisch, dass man auf so naheliegende Dinge nicht selber kommt.
Aber auch dafür sind wir ja hier gell ;)
Zitat:

Aber das Wort "Verunsicherheit" gibt es leider nicht.
Es sei denn, es ist ein absichtlich von dir platzierter Neogolismus - dann nehme ich alles zurück.
Nein, das wolllte ich eigentlich nicht - aber jetzt, wo du es ansprichst...;)
Ich werde diese Änderung noch vornehmen.

Hab nochmals herzlichen Dank!

Liebe Grüße,
Chavali



ginTon 07.07.2011 18:18

hallo chavilein :)

Ich finde das Werk sehr nachdenklich, weshalb ich es auch in dieser Rubrik vermute. Ich lese daraus zunächst einen Weg heraus, zB die erste Strophe:

Schwankende Brücke im herbstlichen Wind,
unendlich tiefer der Fluss;
sie zu bezwingen ein Muss.
Werd ich es schaffen, ertast ich mir blind
Schritte, die mehr als Balanceakte sind?


so erschließt sich mir daraus etwas von a nach etwas gegenüberliegenden b zu betreten und hinter sich zu lassen, ein Brücke steht immer für die verbindung zweier Punkte und der damit einhergehenden Veränderung. Das Betreten der Brücke ist jedoch mit Ängsten verbunden, es jedoch zu tun unumstößlich...die zweite Strophe:

Hohl pfeift der Sturm, wo Balken sich biegen,
ächzen im Takt meines Gehens.
Mittelpunkt dieses Geschehens:
Haltlos sich die Gedanken bekriegen,
und in Verunsicherung wiegen.


wirkt hinsichtlich dessen noch vertstärkend....das Licht in der letzten Strophe kann für Erneuerung oder ähnliches stehen...

Da ist schon das Ende des Grauens in Sicht,
ein Schritt noch vom schaukelnden Elend.
Der Fluss unter mir, er wirkt spülend
und reinigt verwirrendes Dickicht.
Dort hinten erblick ich erhellendes Licht.


wie gesagt inhaltlich sagt es mir sehr zu :)...liebe Grüße gin

Dana 08.07.2011 21:06

Liebe Chavali,

deinen tiefsinnigen "Balanceakt" finde ich sehr bewegend und gut verdichtet.
Man liest gleich mehrmals, weil einem solche Balancen vertraut sind.;)

Der "Lichtblick" am Ende fühlt sich selbst für den Leser gut an, weil man sich gleich nach der ersten Strophe auf dieser "Brücke" befindet und den letzten Schritt zum "festen Boden" sucht.

Auf die gewählte Metapher der schwankenden Brücke lässt man sich wörtlich ein, ohne den Faden zur Lebensbalance zu verlieren - schöne Dichtung.

Liebe Grüße
Dana

Chavali 11.07.2011 13:18

Hi ginnie,
Zitat:

Ich finde das Werk sehr nachdenklich, weshalb ich es auch in dieser Rubrik vermute.
Damit hast du absolut recht.
Deine Interpretation ist natürlich passend; der Text ist ja auch eindeutig von der Aussage her.
Zitat:

wie gesagt inhaltlich sagt es mir sehr zu
Danke, das freut mich.
Die Einschränkung inhaltlich bedeutet was...? :)



Liebe Dana,
Zitat:

deinen tiefsinnigen "Balanceakt" finde ich sehr bewegend und gut verdichtet.
Danke dir. Ursprünglich hatte ich einen anderen Titel.
Irgendwie ist mir aber der Inhalt davon abgekommen, so dass es ein Balanceakt wurde.
Ich glaube, das kennt jeder, dass man etwas beginnt, was später anders endet als gedacht...:)
Zitat:

Auf die gewählte Metapher der schwankenden Brücke lässt man sich wörtlich ein, ohne den Faden
zur Lebensbalance zu verlieren - schöne Dichtung.
Nochmals danke. Ich freu mich sehr über dein Urteil.


Euch beiden liebe Grüße!
Chavali





ginTon 12.07.2011 16:44

hi chavilein :)

Zitat:

Die Einschränkung inhaltlich bedeutet was...? :)
Das ich mich zunächst einmal nur auf den Inhalt konzentrierte, da er auf mich sehr fesselnd wirkte. Ich habe die Form nicht überlesen, habe diese zunächst jedoch in meinem Kommentar außen vor gelassen, weil ich über den Inhalt kommentieren wollte ;) ..

Gut du hast was den Reim betrifft in jeder strophe die gleiche Methodik angewandt, dh einen Paarreim in den ersten vier Zeilen umarmt. Die Kadenzen wechseln in den Strophen und jeder Strophe klingt mit einem Paarreim aus. Das Metrum scheint mir erzählend ohne merklichen Rhythmus gewählt. Es ist sogar so, dass an einigen Stellen aufgrund der starken Zäsuren regelrecht Pausen entstehen. Vllt sollte das Metrum "das Atem anhalten" wiederspiegeln, während des Balanceaktes? :)

liebe Grüße gin

Chavali 20.09.2011 17:31

hi ginnie,

lange musstest du warten auf meine Antwort...bitte verzeih :)
Zitat:

Gut du hast was den Reim betrifft in jeder strophe die gleiche Methodik angewandt, dh einen Paarreim in den ersten vier Zeilen umarmt. Die Kadenzen wechseln in den Strophen und jeder Strophe klingt mit einem Paarreim aus. Das Metrum scheint mir erzählend ohne merklichen Rhythmus gewählt. Es ist sogar so, dass an einigen Stellen aufgrund der starken Zäsuren regelrecht Pausen entstehen. Vllt sollte das Metrum "das Atem anhalten" wiederspiegeln, während des Balanceaktes?
Ich habe keinen besonderen Maßstab angelegt und keine wissentlichen Pausen im Metrum gemacht.
Dass der Text eher - wenn auch Reime vorhanden sind - prosaisch anmutet, ist mir bekannt.
Ich wollte eine bestimmte Botschaft - vor allem an mich selber - vermitteln.
Für mich ist das (so halbwegs) gelungen.
Vielleicht hätte ich den Text nicht einstellen sollen.
Er kommt mir heute unausgereift vor.

Hab ganz lieben Dank für deinen Kommentar, der mir nach dieser langen Zeit obige Erkenntnis vermittelt hat.


Lieben Gruß,
Chavali



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