Gedichte-Eiland

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Erich Kykal 14.05.2015 09:58

Die umarmte Erinnerung
 
Es klang die Nacht so wunderlich berauschend,
als sänge sie der Liebe leise Lieder
aus allen Sternen in mein Schweigen nieder.
Den stillen Sang mit dunklen Düften tauschend

verlor sich meine Seele innig lauschend
im Hauch von Ungewissem und von Flieder,
und lang versunkne Flotten kreuzten wieder
dem Herzen zu, die stolzen Segel bauschend.

Umarme mich, versprach der süße Schatten,
und wachse in die Dinge, die entschwunden!
Erwache in den Träumen, die wir hatten,

da wir noch bluteten aus lichten Wunden,
wo selbst im tiefsten, innersten Ermatten
dein Leben du gefühlt hast und empfunden.

juli 19.05.2015 16:51

Hallo eKy,:)
Der Titel hat mich angelockt, und ich habe ein Liebesgedicht gefunden, daß zu Herzen geht. Ich kann nur schreiben was ich fühle, wenn ich deine Gedichte lese. Es ist gleichzeitig melancholisch, weil du ja zurückblickst, und hoffnungsvoll.

Die Nacht, sie steht für Geborgenheit, Stille und Dunkelheit. Du schreibst sie ist so wunderbar berauschend!
Die "berauschend", "tauschend", "lauschend", "bauschend" Reime gefallen mir sehr gut.

Und der "Flieder" assoziert: Lila Farbe, berauschenden Duft oder weißer Flieder als Mu(n)t(er)macher.

Zuletzt läßt du die schönen Erinnerungen aufsteigen. Es kommt nicht von ungefähr, dass ich bei deinem Gedicht abschweife, und selber zurück denke. Das hast du sicher so gewollt, als du dieses Gedicht geschrieben hast.

Sehr gerne gelesen mit einem Lächeln im Gesicht.:Blume::Blume::Blume:

Freundliche Grüße
sy

Erich Kykal 19.05.2015 21:01

Hi, Sy!

Vielen Dank für das dicke Lob - immer wieder gern genossen, diese "Fanpost"!;):Kuss

Allerdings wage ich nicht, mich mit unverdientem Lorbeer zu schmücken:

Du schriebst: "Das hast du sicher so gewollt, als du dieses Gedicht geschrieben hast."

Nein! Ich schreibe intuitiv. Beim Dichten achte ich bewusst auf Zeilenlänge, Rhythmus, Reimschema und Satzmelodie - den Inhalt überlasse ich dabei ganz den "tieferen Schichten" meines Bewusstseins: Der Text treibt dorthin, wo er hin will und nimmt nur manchmal bewusst einen Umweg für einen unumgänglichen Reim oder so.
Ganz sicher habe ich zuvor keinen Plan oder denke über die mögliche Wirkung auf den Leser nach, während ich schreibe.
Oft genug bin ich hinterher selbst überrascht, was sich so "ergeben hat"!

LG, eKy

Falderwald 03.06.2015 17:21

Servus Erich,

ich muss aber auch sagen, dass dieser Text für einen bekennenden "Unromantiker" sehr gefühlvoll daher kommt.

Als typisches Liebesgedicht empfinde ich es allerdings weniger, ich kenne dich ja ein wenig, daher würde ich sagen, es handelt sich hier wohl eher um eine Ansage an das Leben an sich.

Auf mich wirkt dieses Sonett durchgängig hell und froh, auch wenn sich ein leichter Hauch von Melancholie heimlich zum Ende des ersten Quartetts auf den Weg durch das zweite macht.

Insgesamt guter Eindruck nichts zu meckern, das Gedicht hat einen sehr positiven Eindruck bei mir hinterlassen. :)


Gern gelesen und kommentiert...:)


Liebe Grüße

Bis bald

Falderwald



Erich Kykal 03.06.2015 20:57

Hi, Faldi!

Hier geht es primär um die Erinnerung selbst, wenn auch im Wesentlichen um die Erinnerung an eine Liebe, wie es scheint. Es könnte aber auch etwas anderes sein.

Das LyrIch umarmt die Vergangenheit, heraufbeschworen von Nacht und Fliederduft, findet darin Trost und Freude.

Dem Werk liegt in diesem Fall keine eigene Erinnerung zugrunde, da hab ich emotional extrapoliert.;)

Vielen Dank für das positive Echo!:)

LG, eKy

Chavali 08.06.2015 17:20

Lieber Erich,

auch mir gefällt dieser tief emotionale Text.

Egal, ob man diese Dinge selbst erlebt oder sie das Dichterherz erfunden hat:
Er liest sich wunderschön und schmelzend :)


Sehr gern gelesen - wie alles von dir!

Lieben Gruß,
Chavi

Dana 08.06.2015 20:03

Lieber eKy,

es gibt Momente, die zutiefst berühren und nicht selten dem Berührten unerklärbar bleiben.
Weil ich Gedicht, Kommentare und deine Antworten gelesen habe, glaube ich zu verstehen.
Das gibt es - aber dir ist es gegeben, jenen Moment lyrisch zu erfassen. Es geht um Erinnerungen - vielleicht an eine Liebe, an einen Duft, an ein "unbedeutendes" Glücksgefühl oder ein Lob in Kindertagen.
Eine Erinnerung, die einst empfunden wurde und sich heute spiegelnd mitteilen will - in Lyrik.:Blume:

Jeder einzelne Mensch hat ge- und erlebt. Ein Einzelner kann in Dichtung und Sprache mit Ge- und Erlebtem erinnern.
Du hast es vollbracht - wunderschön.

Liebe Grüße
Dana

Stachel 09.06.2015 11:15

Hallo Erich,

dein Sonett hat eine schöne Sprachmelodie. Ich muss es mehrfach lesen, um in deinen Stil eintauchen zu können und den Sinn zu erfassen. Es erschließt sich nicht unmittelbar, braucht also Zeit zur Entfaltung (wie guter Wein).

Was dem Klang sehr gut tut ist das Spiel mit den Alliterationen, z.B.
V2: "Liebe leise Lieder"
V4: "stillen Sang [...] dunklen Düften" und ff. noch mehrfach mit "s"

Klangqualität ist, wie du mir im anderen Thread schon sagtest, dein großes Steckenpferd hierbei. Ich finde das merkt man.
Zwei Stellen fand ich etwas schwer zu sprechen:


"und lang versunkne Flotten kreuzten wieder"


"vergangne" wäre etwas weicher, wenn auch nicht gleichbedeutend. Flotten können zwar nicht "gehen", was unweigerlich anklingt, aber immerhin untergehen. Es ergäb auch einen kleinen Binnenreim mit "lang". Wäre das eine Alternative für dich?

"wo wir noch bluteten aus lichten Wunden,"

Mir kam folgende Variante in den Sinn:
wo uns das Blut noch rann/troff aus lichten Wunden (oder "lief", als Alliteration zu "lichten"). "Troff" klingt dabei am dunkelsten und kontrastiert dadurch das Adjektiv "licht", das so heißt, wie es klingt.

Freundliche Grüße vom
Stachel

Erich Kykal 09.06.2015 20:22

Hi, Chavi!

vielen Dank fürs Reinschauen und Genießen!:)


Hi, Dana!

Gerüche sind schwer unterschätzt! Gerade wichtige Erlebnisse, wo wir ganz wach und alert sind, also quasi "mit allen Sinnen" erleben, verbinden sich in unserer Erinnerung unlösbar mit einer gleichzeitig erfassten olfaktorischen Komponente!

Vielen Dank für den lieben Kommi!:Kuss


Hi, Stachel!

Du fandest also bei mir auch zwei "schwerer lesbare Zeilen".
Ein kleine Retourkutsche für mein Gemecker bezüglich deines Freundschaftssonetts?;) - Nein, da wollen wir mal nix unterstellen!:cool:

1. Satz: Flotten versinken nun mal im Lyrischen, das gehört so in romantisierender Dichtung! ;) Aus "vergangne" wird bei mir einfach nicht das richtige Bild draus.

2. Satz: Schöner wäre: "wo unser Blut noch rann ..." - das "uns das" schwächt die Melodie. Eine schöne Alternative so, aber ich finde meine ebenso gut, vor allem wegen der weiteren Alliteration "wo wir".
Das "troff" wirkt zwar klanglich dunkel durch das "o", allerdings ist der heftige Zischlaut am Ende (Doppel-f) ein sehr harter, ja heftiger Ausklang.

Ehrlich gesagt habe ich beim Lesen dieser Zeilen kein Artikulationsproblem - aber da ist wohl jeder Mund anders gestrickt!

Vielen Dank für deine Gedanken!:)

LG, eKy

Stachel 10.06.2015 00:18

Achwas - doch besser per PM
`Tschuldigung.

Erich Kykal 10.06.2015 11:15

Hi, Stachel!

Nix zu entschuldigen!

Für die Zukunft: Du kannst übrigens ungewollte Kommis ganz löschen, solange noch niemand geantwortet hat. Dazu geh auf "Ändern", dann hast du unten rechts die Tilgung als vorletzte Option.

LG, eKy

Stachel 11.06.2015 08:34

Hallo Erich,

danke für den Hinweis mit der Löschoption! Ich hoffe, ich werde sie nicht zu oft nutzen müssen. ;)

Zitat:

Zitat von Erich Kykal
Ehrlich gesagt habe ich beim Lesen dieser Zeilen kein Artikulationsproblem - aber da ist wohl jeder Mund anders gestrickt!

Nee, du nuschelst ja vermutlich auch nicht so wie ich. :D

Es waren nur ein paar Gedanken. Ich hatte dich ja im anderen Thread nach deinen "Prämissen" für deine Sonette gefragt. Das tat ich natürlich nicht gänzlich ohne "Hintergedanken": Ich möchte gerne ein klein wenig durch deine Brille schauen können. Meine eigene Brille trage ich ja ohnehin und sie hat leider an den Seiten diese kleinen, meist sinnvollen, aber auch manchmal nervigen Dinger, diese ... na, wie hießen sie noch gleich ... Scheuklappen, genau. :D

Wie ich sehen konnte, habe ich das Thema eines deiner Augenmerke recht gut getroffen. So freut es mich besonders, dass du dich mit meinen kleinen Details sehr nett auseinander gesetzt hast. :)

Freundliche Grüße vom
Stachel

Erich Kykal 11.06.2015 21:15

Hi, Stachel!

Mein absoluter Lieblingsdichter und mein ewig unereichtes Vorbild: Rilke!

Auch er legt in seinen Sonetten (wie in seiner Lyrik überhaupt) größten Wert auf klingende, flüssige Sprache, lange Sätze bei klarem Verlauf und lyrische Sprachbilder. Dem ordnet er viele der Sonettregeln unter. Ich versuche es genauso zu halten.

LG, eKy

Stachel 11.06.2015 22:43

Hallo Erich,

die langen Sätze sind mir bei dir und bei Rilke aufgefallen. :)
Leider finde ich mich bislang nicht gut in Rilkes Gedichte hinein. Der Panther ist zwar ein großer Favorit von mir, aber damit erschöpft es sich fast. :o

Mein Freundschaft-Sonett ist vom Satz-Aufbau her einigermaßen "typisch" für mich. Das hängt vor allem mit den behandelten Themen zusammen. Ich schreibe zur Zeit kaum Natur- oder Dinggedichte. Meine Sätze oder Halbsätze enden meist mit dem Vers, weil ich thematisch keine fließende Stimmung erzeugen möchte. Dafür stelle ich alles mögliche und unmögliche mit der übrigen Form an: Rhythmusvariationen, andere Hebungszahl, andere Versfüße, etc.
Da bin ich wieder komplett bei Rilke, denn der hat ebenfalls nahezu alles mit Sonetten ausprobiert. Insofern nutze ich ihn sehr gerne, wie ja auch in jenem Thread zu sehen, als "Anwalt" für Formenvariabilität. :D

Freundliche Grüße vom
Stachel

Erich Kykal 12.06.2015 20:29

Hi, Stachel!

Bei Rilke - mag er ausprobiert haben, was er will - kommt es immer auf die Melodie der Sprache an. Keiner spinnt aus dem groben Werg des Deutschen solche Seide wie er! Wenn man ihn liest, muss man sein Lied hören, tief drinnen - es ist wahrlich wie ein Zauber! Ihn darf man nicht auf handwerklicher Basis angehen!
Seine lyrische Sprache kennt kaum Ecken und Kanten, sie will gefühlt werden, nicht analysiert und seziert! Man muss sich ganz an sie verschenken!
Sie ist wie ein Bach im Walde, weich und klingend, bestenfalls mal fröhlich plätschernd, aber immer mit dem heiligen Ernst wahrer Natur im Hintergrund wie ein Rauschen in den Wipfeln - DAS ist Rilke!
Egal, was er beschreibt, begreift, erhebt - seine Worte fließen mit seiner Seele. Das ist die wahre, die wirkliche Kunst.

Ich empfehle dir, sein lyrisches Gesamtwerk zu kaufen: "Rainer Maria Rilke - Die Gedichte", Insel Verlag.
Kostet nur um die 15 Euro oder weniger. Das Buch war jahrelang quasi mein Pendant zu einer Bibel! Selbst heute brauche ich nur einige wenige Seiten zu lesen - schon kommen mir die Tränen, und das allein schon durch die pure Schönheit seiner Sprache!

Meine Lieblinge, abgesehen vom "Panther": Die Gazelle, Der Schwan, Einsamkeit, Römische Föntäne,... ach, die Liste würde zu lang! Aber sie beinhaltet viel aus den Sammlungen "Mir zur Feier", "Das Buch der Bilder", "Neue Gedichte" und "Der neuen Gedichte anderer Teil" sowie "Sonette an Orpheus", da vor allem das allerletzte des 2. Teils.
Auch vieles aus den "Stundenbuch" ist sehr schön, aber das atmet eine tiefe Gläubigkeit - damit habe ich rein inhaltlich so meine Probleme!

Kurzum - Rilke ist mein lyrisches Alpha und Omega!

LG, eKy

Stachel 17.06.2015 10:26

Hallo Erich,

ich finde es toll, wie du von Rilke schwärmst. Ich habe mir vor zwei Monaten das Buch "Gesammelte Gedichte" (aus dem Inselverlag, erschienen 1962) aus der Bücherei ausgeliehen und schon mehrfach verlängert.
Viele Gedichte sprechen mich aber leider nicht an. Die Gazelle ist ein prima Beispiel. Ich habe sie schon mehr als 10 mal gelesen, mit Ruhe, unter verschiedenen Blickwinkeln, aber ich scheitere schon am Verständnis der ersten Strophe. Ab Mitte der zweiten geht es einigermaßen verständlich weiter.
Aber: Welcher Reim kommt und geht in der Gazelle und warum vergleicht er das Geweih mit Laub und Leier?

Ich vermag im Klang allein noch keine Kunst zu erkennen. Das liegt sicher am persönlichen Geschmack. Ich fürchte, da brauche ich Nachhilfe. Aber du sagst es bereits: Man muss sich tief in seine "Musik" hineinfühlen. Vielleicht sind die dafür notwendigen Antennen nicht jedem gegeben.

Der Panther ist für mich deshalb so genial, weil er nicht nur inhaltlich klar verständlich ist (Den Untertitel hätte ich nicht gebraucht.) und klar abgegrenzte Sätze hat, die mit den Versen im Einklang stehen, sondern auch weil er interessante Formelemente sehr gezielt nutzt, z.B. die fehlende Hebung im letzten Vers oder die vom Binnenreim unterstützte Wiederholung von "Stäbe" in S1, um nur zwei zu nennen.

Vielleicht finde ich noch einen Weg in die Tiefen seiner Lyrik. Ich werde es jedenfalls weiter versuchen. Wenn nicht, ist das auch nicht schlimm. Die Welt ist bunt und jeder hat einen anderen Stil. ;)

Freundliche Grüße vom
Stachel

Erich Kykal 17.06.2015 15:35

Hi, Stachel!

Die Gazelle

Gazella Dorcas

Verzauberte: wie kann der Einklang zweier
erwählter Worte je den Reim erreichen,
der in dir kommt und geht, wie auf ein Zeichen.
Aus deiner Stirne steigen Laub und Leier,


Die erwählten Worte sind "Gazella Dorcas", der lateinische Fachbegriff der von Rilke bedichteten Gazellenart. Mit "Verzauberte:" spricht er diese direkt an.

https://de.wikipedia.org/wiki/Dorkasgazelle

Mit dem "Reim, der in der Gazelle geht wie auf ein Zeichen", ist wohl die Grazie dieses Tiers beschrieben, das geheimnisvolle Schöne, das bezaubert wie ein Gleichklang, da alles an ihr Harmonie ist wie dieser.

Laub und Leier sind die Zeichen der Dichterwürde. Rilke vergleicht das Tier also mit der Poesie an sich.

und alles Deine geht schon im Vergleich
durch Liebeslieder, deren Worte, weich
wie Rosenblätter, dem, der nicht mehr liest,
sich auf die Augen legen, die er schließt:


Alles, was das Tier ausmacht, wurde schon in Liebesliedern beschrieben, die einem, der das Buch beiseite legt, um zu träumen, die Lider weich und zärtlich wie Rosenblätter schließen.

um dich zu sehen: hingetragen, als
wäre mit Sprüngen jeder Lauf geladen
und schösse nur nicht ab, solang der Hals


Und im Traum sieht der Schläfer dann sie, die Gazelle, lauschend, schwerelos wirkend, voll gespannter Energie den Kopf wendend.

das Haupt ins Horchen hält: wie wenn beim Baden
im Wald die Badende sich unterbricht:
den Waldsee im gewendeten Gesicht.


Er vergleicht das Tier mit einer nackten Schönen im Waldteich, die vielleicht ein Ästlein knacken hörte und sich nun halb ängstlich, halb schamhaft umsieht: Bereit zur Flucht.
Und die Lichtreflektionen des Wassers spieglen sich in ihren großen dunklen Augen ...


Hier noch ein im Internet recherchierter Artikel darüber:

Zeichensprache: »Die Gazelle«

Die »Neuen Gedichte« (1907), zu denen »Die Gazelle gehört«, stehen in engem Zusammenhang mit den »Briefen über Cézanne« (1907); die Sachlichkeit, die Rilke in Cézannes Gemälden erkennt, habe er sprachlich in den »Neuen Gedichten« zu erreichen gesucht.

Andersartig, als sich die Schwingungen im Universum entfalten, kommen sie uns durch unsere Sinneswahrnehmungen zu Bewusstsein, so Rilke in dem Essay »Moderne Lyrik« (1898). Der Zeichencharakter der sinnlichen Wahrnehmung ist für ihn nun keineswegs ein Anlass, sie als chimärisch, illusorisch, ohne entsprechende Wirklichkeit einzustufen, im Gegenteil: Dass die Sinnesempfindungen Zeichencharakter besitzen, entfesselt für Rilke die künstlerische Aufgabe, nämlich die Zeichen und Äquivalente für die verborgenen Seiten der Wirklichkeit zu finden, sie dadurch sichtbar zu machen.

Analog dazu ist das Verhältnis von dichterischer Sprache und Gegenstand in der Oktave des Sonettes auf die Gazelle zu verstehen. Zwar behaupten die ersten beiden Zeilen, dass die sprachlichen Umschreibungen die Anmut und Grazie der Gazelle nicht einfangen können, dass der sprachliche Reim den Reim, den Rhythmus, nach dem sie sich bewege, nicht erreicht. Doch in der Flucht von Metaphern und Vergleichen, in welche sich die Umrisse des Tieres auflösen, vollzieht sich eine poetische Übersetzung. Seine Konturen verschwimmen: »Aus seiner Stirne steigen Laub und Leier«. »Laub und Leier« fungieren als Metaphern; die Hörner der Gazelle werden mit den Emblemen des Dichters verglichen. Dass die poetischen Bilder und Zeichen – »Reim«, »Laub und Leier« – niemals die Ebene des Indirekten verlassen können, ist von Anfang an signalisiert; aber die metaphorische Sprache eröffnet einen neuen Bezug zu dem, wofür hier Äquivalente und Gleichnisse gefunden wurden.

Und wofür wurden sie gefunden? Für die Anmut und Grazie der Gazelle, sagten wir. Das zweite Quartett behauptet die vollkommene Übersetzung des Tieres in Sprache, in Vergleiche, und bringt eine neue Dimension ins Spiel: »und alles Deine geht schon im Vergleich / durch Liebeslieder, deren Worte, weich / wie Rosenblätter«. Liebeslieder: Unmittelbar kann Sprache das Tier nicht abbilden, aber sie kann eine Metaphorik für die Ebene finden, auf der die Beobachtung des Tieres zum Ausdruck einer Liebe zum Dasein wird.

Innerhalb des Bereichs der gereimten, vergleichenden und metaphorischen Sprache vollzieht sich im Übergang zum Sextett die Wende zum Sehen: »um dich zu sehen«, mit diesem Neuansatz beginnt das erste Terzett. »hingetragen, als / wäre mit Sprüngen jeder Lauf geladen / und schösse nur nicht ab, solang der Hals / das Haupt ins Horchen hält«:

Überaus treffend ist hier eine Gazelle auf dem Sprung dargestellt, horchend, ob Gefahr im Verzug ist – niemand wird sich der visualisierenden Evokationskraft dieser Zeilen verschließen können. Die angespannte Dynamik des Tieres auf dem Sprung kontrastiert zudem dem geradezu Pretiösen der vorangegangenen Vergleiche. Gleichwohl sind Oktave und erstes Terzett genau miteinander verbunden. Das Schließen der Bücher (»dem, der nicht mehr liest«) geht einher mit dem Schließen der Augen – das anschauliche Bild der Gazelle ist ein »Innen-Bild«, ein Gesicht, eine Vision. In ihm sind die sprachlichen Vergleiche aufgehoben; dies scheint die Wendung von den Liebesliedern, die sich auf die Augen legen, anzudeuten.

Das zweite Terzett bringt eine Synthese. Die Reihung der Vergleiche hebt wieder an (»wie wenn beim Baden«), der Vergleich birgt eine erotische Komponente. Unmittelbarkeit wird in diesem Terzett nunmehr auf der Ebene der Veranschaulichung abgewehrt. Wie sich der Kontur des Tieres auflöst (Z 1-4), wie die Grenzen zwischen Innen- und Außenwelt verfließen (Z 7-9), so wechselt am Ende die Perspektive auf verwirrende Weise. Wie sieht die Badende im abschließenden Vergleich den Waldsee? Blickt sie, mit einem Nachbild des Waldsees im Auge, in den Himmel? Bedeutungsvoll läuft die Flucht der Vergleiche und Bildsplitter auf eine ›Umkehrung‹ zu, welche die Lokalisation des anvisierten Gegenstandes unmöglich macht: »den Waldsee im gewendeten Gesicht«.

In den »Briefen über Cézanne« erläutert Rilke die »Ansätze zur Sachlichkeit« in den »Neuen Gedichten« (wobei er »Die Gazelle« explizit erwähnt) anhand der Malweise Cézannes: »Man malte: ich liebe dieses hier; statt zu malen: hier ist es.« Den Weg von dem Aussprechen der Liebe (zum Dasein) hin zu dem Moment, in dem sie restlos eingegangen ist in die Darstellung, zeichnet »Die Gazelle« nach.

Monika Fick


Ich hoffe, das hilft dir weiter!:) Kleiner Tipp: In diesem Fall reichte es, die Stichworte "laub und leier" zu googeln!:cool:

Übrigens: Mit vielen seiner Texte gehe ich nicht konform, zB was das Religiöse angeht. Das hält mich aber nicht davon ab, den wundersollen Stil zu würdigen, in dem sie verfasst sind. Zumindest verstehe ich alles!;)

Sehr selten finde ich eine Stelle, wo ich mir denke: also DAS hätt ICH besser hingekriegt!:rolleyes:

LG, eKy

Stachel 23.06.2015 13:55

Zitat:

Zitat von Erich Kykal (Beitrag 85431)
Ich hoffe, das hilft dir weiter!:) Kleiner Tipp: In diesem Fall reichte es, die Stichworte "laub und leier" zu googeln!:cool:

Hallo Erich,

herzlichen Dank für deine ausführliche Beschäftigung mit der Gazelle.

Mein Unvermögen liegt nicht in der Benutzung einer Suchmaschine sondern in der Erfassung der Bilder. Rilke hat in meinen Augen ein paar wirklich gute Gedichte geschrieben, aber mit vielen, so auch mit der Gazelle, geht es mir wie mit moderner, sehr abstrakter Kunst:
Sie sagt mir nichts. Sie erreicht mich nicht intellektuell (will sie ja auch nicht) und emotional ärgert sie mich allenfalls (will sie vielleicht sogar: irgendwie "berühren", egal wie).
Die Interpretationen, die ich im Netz finde, machen es aber nicht besser. Ich lese daraus neben einigen sicher richtigen Gedanken auch viel Geschwafel und Nebelgestocher, teilweise auch logische Widersprüche.

Der Vergleich einer Gazelle mit einem Gedicht und den Insignien der Dichtkunst ist nicht mal ausgesprochen abstrakt, sondern einfach nur nicht nachvollziebar.

Ich finde es wunderbar, dass du für Rilke so schwärmen kannst und er dir so viel gibt. Es macht mich ein wenig neidisch, denn es würde meinen Horizont erheblich erweitern, wenn ich in der Lage wäre, das nachzuvollziehen. Mein derzeitiger Stand ist allerdings: Rilke und ich passen nicht zusammen. Aber da hat er wohl kein Alleinstellungsmerkmal. :D

Ich gebe aber nicht auf, das wäre zu einfach. Die Elegien warten noch und daneben ein paar Prosatexte.
Doch jetzt sind erst einmal andere Dichter dran. :)

Freundliche Grüße vom
Stachel

Erich Kykal 15.07.2015 09:50

Hi, Stachel!

Logik ist - bei aller Wertschätzung auch durch mich - nur eine dünne Tünche über der äonenalten Tiefe menschlicher Gefühle!
Rilke ist ein echter Gefühlsdichter, seine Texte müssen nicht logisch erklärbar sein (obwohl sie es - zumindest für mich - zumeist durchaus sind!), sie sprechen tiefere Schichten des Wiedererkennens in uns an.
Deine Termini "Geschwafel und Nebelgestocher" tut mir weh, ich kann Rilke nicht so sehen. Und sein Vergleich eines edlen, grazilen und eleganten Geschöpfes mit ebensolcher Dichtkunst ist für mich geradezu genial!

Seinen Elegien und Prosatexten allerdings kann hinwiederum ich nichts abgewinnen! Für mich muss Lyrik eben gereimt sein!;):rolleyes:

Ich hoffe, du findest irgendwann den richtigen "Draht" zu seinen Werken.

LG, eKy

Stachel 15.07.2015 21:03

Hallo eKy,

das "Geschwafel" musst du dir nicht zu Herzen nehmen, denn es galt nicht deinem geschätzten Rilke sonden den Interpretationen zu seinen Werken, die sich mir ebenfalls nicht in Gänze erschließen. Sie vermögen ihn mir nicht näher zu bringen.

Was das Reimen angeht, bin ich wiederum ganz bei dir. Ab und an schreibe ich auch mal etwas in ungereimter und unrhythmisierter Form, aber es ist bislang sehr selten (abgesehen von Prosa, versteht sich ;))

Was den "Draht" angeht, so gebe ich noch nicht auf, aber lege erstmal auf Eis. Andere Projekte warten. :-)

Freundliche Grüße vom
Stachel

Erich Kykal 30.12.2016 19:07

Hi Stachel!

Ich wünsche dir von Herzen, dass du diesen Zugang finden mögest! :)

LG, eKy


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