Gedichte-Eiland

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-   -   Schatten der Vergangenheit (http://www.gedichte-eiland.de/showthread.php?t=15617)

Erich Kykal 10.08.2016 12:43

Schatten der Vergangenheit
 
Zuweilen wachsen Geister in die Stube,
verworfne Bilder aus entgleisten Stunden,
Erinnerungen, lange schon entschwunden
und scheinbar sicher in der tiefsten Grube

verdrängter Schande. Aus den dunklen Ecken
verdichten sie die schwere Atmosphäre
mit vorwurfsvollen Schemen, so als wäre
dein Licht verloren, das sie nun bedecken.

Die schwarzen Zähne der verwehrten Reue
gebleckt an atmende und krumme Wände
und flehend ausgestreckt die Schattenhände

nach deiner Furcht, dich ihrem Ruf zu beugen -
sie spüren dich und halten dir die Treue:
Apostel deines Abgrunds, die bezeugen ...

Chavali 10.08.2016 15:43

Servus, Erich,

Die Schatten der Vergangenheit sind immer wieder und generell ein beliebtes Thema ;)
Ich habe auch schon etliches in diesem Sound verdichtet.

Was ich nun beim Lesen deines Sonetts empfinde, wird der Rubrik Trauer und Düsteres gerecht.
Es wird ja immer behauptet, nur das, was man nicht tat oder versäumte, kann man bereuen.
Was kann so schwerwiegend sein, dass sich Schande und Vorwürfe immer wieder in die Gegenwart spielen...

Dein erstes Terzett
Zitat:

Die schwarzen Zähne der verwehrten Reue
gebleckt an atmende und krumme Wände
und flehend ausgestreckt die Schattenhände
finde ich ein wenig überzogen - sprachtechnisch gesehen :o

Trotzdem gern gelesen und darüber nachgedacht hat mit lieben Grüßen
Chavi

Erich Kykal 10.08.2016 15:56

Hi Chavi!

Der von dir zitierte Spruch "Nur das, was man nicht getan hat, wird man bereuen" ist echt ein Schwachsinn! :rolleyes:
Jeder hat in seinem Leben so manches getan, was er für den Rest seiner Tage bereuen wird - sogar Soziopathen! :Aua

Dass dir diese Geister zu überzogen dargestellt erscheinen, mag daran liegen, dass deine Verfehlungen vielleicht nicht so gravierend waren wie die manch anderer ... ;):Kuss

Aber glaub mir: Wer in der Gedankenlosigkeit der Jugend wahrlich grausam fehlte, den foltern die Erinnerungen noch grausamer, wenn er zu spät erst Einsicht und Gewissen entdeckte ...

Vielen Dank für deine Gedanken! :)

LG, eKy

Chavali 10.08.2016 16:13

Zitat:

Zitat von Erich
Der von dir zitierte Spruch "Nur das, was man nicht getan hat, wird man bereuen" ist echt ein Schwachsinn!

Das sehe ich nicht ganz so, lieber Erich.
Zum Glück habe nicht ich diesen Spruch erfunden - aber ich gehe mit ihm ein Stück weit konform.

Mit dem Spruch sind eben auch die versäumten und vertanen Chancen gemeint,
die man in der Gedankenlosigkeit der Jugend begangen hat.

Und sehr wahrscheinlich auch noch später, getreu dem Motto:
Das machen wir alles noch. Oder: Morgen, morgen, später, später....
Und wie oft ist das schon zu spät gewesen...? :rolleyes:

LG Chavi




Erich Kykal 10.08.2016 16:43

Das, liebe Chavi, habe ich schon verstanden: Ein ermutigender Spruch für sich in die Brust werfende Optimisten, die das Leben und alles, was es bieten mag, auskosten wollen. ;)

Dem exakten Wortsinn nach ist es aber eben ein Blödsinn!:cool::p:D

Gern gefrotzelt!:Blume:

LG, eKy

Wodziwob 10.08.2016 17:37

Hi eKy,

manchmal hab ich den Gedanken, eines Morgens aufzuwachen und zwei Drittel meines Lebens vergessen zu haben. Vergessen haben zu dürfen besser gesagt. Ist zwar hypothetischer Quatsch, auf der anderen Seite möchte ich zumindest die schönen Erinnerungen daran nicht missen, naja, und den andern verdanke ich immerhin das, was man gemeinhin Erfahrung nennt... aber ich denke, Du verstehst schon.

Gutes Gedicht. Kraftvolle Sprache, gruslig beklemmende Bilder, gefällt mir. :)

Liebe Grüße
Wozi

Dana 10.08.2016 20:25

Lieber eKy,

ich liebe Gedichte/Sonette in der düsteren und traurigen Rubrik - warum auch immer?:confused: (Mag sein, dass es mit eben diesen Schatten zu tun hat.:eek:)

Das Sonett beginnt mit "zuweilen", was für mich keinen Dauerzustand bedeutet. Ich weiß für mich aber, dass Schatten und "Schättchen" sehr aufdringlich sein können und einen immer wieder einholen. Darum gefällt mir
"sie spüren dich und halten dir die Treue" so gut.
Jene Schatten sind sehr individuell. Was dem einen nur ein lächelndes Abwinken bedeutet, kann den anderen in Schattenwelten führen.
(Ich habe als Erwachsene meinen kleinen Bruder (als Erwachsenen) um Vergebung gebeten und ihm erzählt, was mich immer noch quält. Er lachte mich aus und gab zu, sich daran nicht erinnern zu können. Für ihn war die "Sache" erledigt, mich holt sie immer noch in Abständen ein. Mir fehlt sein Verzeihen.)

Unter "Schatten der Vergangenheit" bewegen sich selbst empfundene Geister der eigenen Gefühlswelt - so verstehe ich Dein klangvolles und sprachlich ausgefeiltes Sonett. Wieder einmal: :Blume::Blume::Blume:

Liebe Grüße
Dana

Erich Kykal 10.08.2016 21:48

Hi Wozi!

Wenn du Alzheimer kriegst, dann geht das mit den zwei Dritteln vielleicht sehr schnell, und es hört da auch nicht auf ... :rolleyes:

Deine Erfahrung verdankst du übrigens durchaus auch deinen schönen Erinnerungen - nicht nur das Unheil und der Verlust lehren uns Weisheit und innere Größe!


Hi Dana!

Ich weiß ja nicht, was du deinem Bruder angetan zu haben glaubtest, aber wenn er darüber lachte, wird es schon nicht gar so schrecklich gewesen sein.

Aber natürlich ist der Gradmesser, den ein anderer anlegt, keine Verbindlichkeit für das Ausmaß des selbst empfundenen Schmerzes!

Es stimmt schon: Am heißesten brennt das Feuer in der Hölle, in die wir uns selber stoßen! :Aua


Vielen Dank euch beiden für die prompte Replik! :)

LG, eKy

Wodziwob 11.08.2016 10:17

Hi eKy,

Zitat:

Zitat von Erich Kykal (Beitrag 96154)
Deine Erfahrung verdankst du übrigens durchaus auch deinen schönen Erinnerungen - nicht nur das Unheil und der Verlust lehren uns Weisheit und innere Größe!

Weisheit und innere Größe... kommt immer wieder mal vor, was ich so gehört habe. :D

Aber Du hast natürlich Recht, auch die guten Erfahrungen prägen den Menschen und fördern seine Persönlichkeitsentfaltung, manche mehr als es schlechte jemals könnten. Ist ja auch nur ein Gedankenspiel, angelehnt an Dein Gedicht. Es gibt einfach Erinnerungen, die man sich sparen könnte, die einen immer wieder heimsuchen und quälen...

und das hast Du vortrefflich in ein ausdrucksstarkes Gedicht gepackt. Ich fang da lieber gar nicht erst mit an... :o :rolleyes: :cool:

Liebe Grüße
Wozi

Erich Kykal 11.08.2016 18:31

Ist allzu tief dein Sündenpfuhl,
macht man elektrisch dir den Stuhl.

Und hast du zuviel angestellt,
spritzt man mit Gift dich aus der Welt.

Ist krass dein Konto aus dem Lot
macht man mit Gas dich mausetot.

Sind deine Taten nicht geringe,
zieht man dich hoch in einer Schlinge.

Erwischt man dich als Boss von Bossen
wirst auf Kommando du erschossen.

Doch wo die Muselmanen lachen,
musst du erst gar nichts Böses machen:
Man säbelt dir die Rübe ab
und wirft dich in dein Wüstengrab.


Sorry, einfach so herumgeblödelt ...

LG, eKy

Kokochanel 14.08.2016 11:06

Guten Morgen, Erich,

ich habe dieses Gedicht schon mehrfach gelesen, konnte mich der beschwerenden Stimmung aber nicht unterwerfen, um ihm nachzuspüren, da meine letzten Tage lichtvoll waren.:)
Nun will ich es gerne versuchen, denn es ist sehr gekonnt geschrieben. In den ersten beiden Strophen mag sich noch mancher wiederfinden, obwohl die "Schande" schon ein schweres Wort ist und auf mehr hindeutet als auf kleine Verfehlungen, wo jeder sich im Leben einmal schuldig gemacht hat.

Die letzten beiden Strophen jedoch lassen mir ein Bild von großer, unwiderruflicher und nicht wieder gut zu machender Schuld entstehen.
Ich denke da an die, die im Ex-DDR-Regime an der Grenze schossen, weil es so befohlen war und sie sonst selbst im Bau gelandet wären, ich denke an Mörder oder Menschen, die unter Alkohol einen Menschen tot gefahren haben.
Das sind Abgründe, deren Finger einen Menschen mit Gewissen niemals mehr loslassen.

"Die schwarzen Zähne der verwehrten Reue
gebleckt an atmende und krumme Wände
und flehend ausgestreckt die Schattenhände

nach deiner Furcht, dich ihrem Ruf zu beugen -
sie spüren dich und halten dir die Treue:
Apostel deines Abgrunds, die bezeugen ..."

Über die Ängste und Nöte eines solchen Menschen nachzudenken, erfordert viel Toleranz. Aber warum nicht. Wenn er bereut, hat er es sicherlich verdient.

Grüße von Koko
__________________

Erich Kykal 14.08.2016 12:38

Hi Koko!

Vielen Dank für deine tiefschürfenden Gedanken - du hast meine Intention punktgenau umrissen!

Ich sah neulich eine Doku über amerikanische Gefängnisse.

Wer nicht wieder gut zu machend fehlte, der stürzt sich selbst - wenn er ein Gewissen hat, wie du so treffend sagtest - in die schlimmste Hölle, um das Unsühnbare zu sühnen. Dieses selbstbereitete Fegefeuer hält an, so lange man lebt.
Manche lernen damit zu leben, andere stellen sich oder begehen Sebstmord, weil sie es nicht mehr ertragen. Viele Verhaftete erzählen, dass sie sogar froh waren, als sie endlich geschnappt wurden, weil all das Aufgestaute endlich aus ihnen herausbrechen konnte!

Wenn man Sträflinge interviewt, hört man nicht selten: Ich bin zurecht hier. Ich habe es verdient, hier zu sein.
Sie sind froh, mit verschenkter Lebenszeit büßen zu können, um sich vor sich selbst zu rehabilitieren, das eigene Gewissen ins Reine zu bringen. Die Reinwaschung vor der Gesellschaft ist sekundär oder unwichtig.
Sie erhoffen sich einen von Schuld erlösten Lebensabend.
Das Problem der Justiz: Wie unterscheidet man die Täter mit Gewissen von den selbiges nur simulierenden Soziopathen, die in Wahrheit einen Scheißdreck um ihre Opfer geben!?

LG, eKy

Kokochanel 14.08.2016 19:27

das unterscheiden dann die hochdotierten Psychologen, die Kinderschänder nach 5 Jahren wieder rauslassen...:mad:
Aber darum ging es ja eigentlich in diesem Werk nicht. Es ging ja um das Seelenleben des Täters, dem seine nicht zu verarbeitende Schuld schon hohe Strafe ist.
Wie gesagt, ein Abgrund, in den ich gerne einen Blick geworfen habe, weil das Werk gut geschrieben ist und so viel Verzweiflung in sich trägt, die einen in ihrer Authentizität berührt. Auch wenn man sich wünscht, nie in die Sitaution kommen zu müssen, dies nachempfinden zu können.
Es freut mich, dass ich den Kern deines Werkes getroffen habe.:)

Abendgrüße von Koko

Wodziwob 15.08.2016 08:43

Zitat:

Zitat von Kokochanel (Beitrag 96210)
das unterscheiden dann die hochdotierten Psychologen, die Kinderschänder nach 5 Jahren wieder rauslassen...:mad:

Oh ja Koko,

Mitschuldige und nichts weiter, verblendet von einem surrealen Menschenbild und eigener Selbstüberschätzung. Abschaum hat kein Gewissen, schon gar kein schlechtes.

Das gilt auch für Schwerkriminelle und Schwerverbrecher, ihre Untaten sind ihnen egal, sie sitzen ihre Zeit ab und machen noch raffinierter und abgebrühter weiter, wo sie aufgehört haben. Kleinganoven versuchen im Rahmen ihres selbst geschaffenen Unrechtbewusstseins zu bleiben, gegen die organisierte Kriminalität jedoch haben sie keine Chance und werden zu Handlangern "angeheuert". Wir blicken schweren Zeiten entgegen, siehe Einbruchsraten.

Menschen, die ihr eigenes Gewissen verurteilt und peinigt, sind in der Regel nicht böse, sie haben aus verschiedensten Gründen Böses getan und versuchen dazu zu stehen und irgendwie damit zu leben. Das "Fegefeuer" der Sühne bewusst zu durchleiden, um die nicht mögliche Wiedergutmachung wenigstens auf dem Wege andauernder Selbstbestrafung auszugleichen. Mitunter kann Läuterung sogar zu außergewöhnlicher Güte führen.

Schuld und Sühne. Ein spezifisch menschliches, zeitloses Thema.

Hat mich noch ein wenig beschäftigt...
Wozi

Erich Kykal 25.08.2016 20:33

Hi Koko, Wozi!

Ich spreche hier nicht von Soziopathen, sondern von normalen Menschen, die nie kriminell im eigentlichen Sinne waren oder sein wollten!
Wer hatte nicht selbst schon in seinem Leben Augenblicke, wo nicht viel gefehlt hätte, um selbst in den Abgrund zu stürzen und sich unwiderruflich und unkompensierbar schuldig zu machen, bloß weil man sich die eine nötige Sekunde lang nicht eher hatte beherrschen können?!
Dies liegt uns nicht so ferne, als dass wir allzu leicht und herablassend urteilen sollten über jene, die weniger Glück hatten in solchen entscheidenden Momenten!
Solche Menschen könnten mein LyrIch sein, und dieses Niedergedrücktsein von den eigenen Gewissensbissen zu beschreiben war meine Intention.

LG, eKy

Kokochanel 25.08.2016 23:06

Guten Abend, Erich,

entschuldige bitte, aber das, was du in deinem Gedicht beschreibst, habe ich versucht zu verstehen.
Die in deinem Kommentar jedoch nun folgende Bewertung: "Wer hatte nicht selbst schon in seinem Leben Augenblicke, wo nicht viel gefehlt hätte, um selbst in den Abgrund zu stürzen und sich unwiderruflich und unkompensierbar schuldig zu machen, bloß weil man sich die eine nötige Sekunde lang nicht eher hatte beherrschen können?!
Dies liegt uns nicht so ferne, als dass wir allzu leicht und herablassend urteilen sollten über jene, die weniger Glück hatten in solchen...".

- diese Bemerkung halte ich für leichtsinnig.
Ich denke, wir reden hier nicht davon, dass einer nicht den Müll rausträgt oder sich nach dem Pinkeln nicht die Hände wäscht.
Ich glaube nicht, dass man es so leichtfertig darstellen kann. Nein, ich glaube nicht, dass jeder einmal in seinem Leben grundsätzlich solche Augenblicke hatte.
Ich kenne sowas nicht und ich kenne auch keinen, der sie kennt.
.

Ich meine damit nicht Verzweiflung und Leid, das kenne ich auch - ich meine Verzweiflung und Leid über eine so schlimme Tat/Schuld, dass man damit niemals fertig wird. Und darum dreht sich dein Werk doch.

Insofern setze ich mich nicht herablassend über diese Menschen hinweg, aber jeder ist für sich selber verantwortlich. Muss für sein Tun die Konsequenzen tragen.
Wer solche Schuld auf sich lädt, die du beschrieben haben willst, nein, das ist nicht Otto Normalbürger - das sind Ausnahmen.
Und Gott sein Dank sind es Ausnahmen.
Was mich stört, ist also nicht, dass du dich damit befasst hast, versuchst, anderen das näher zu bringen, sondern die Tatsache, dass du es als etwas Alltägliches darstellen möchtest.

Sicherlich haben wir alle mehr oder weniger mal Schuld auf uns geladen, mal gelogen, mal beleidigt, vielleicht sogar mal geklaut oder als Kinder gekloppt. Aber nicht sowas, was du meinst.

Ich verstehe deine Empfindlichkeit nicht.
Selbstbeherrschung hat wenig mit Glück im Sinne von Glück haben zu tun, sondern mit Charaker und Erziehung. Vielleicht auch mit psychischer Gesundheit letztendlich.
Choleriker, die ihre Frau und Kinder schlagen, sind das noch Normalbürger oder sind schon Soziopathen. Die, die nicht schlagen, sondern nur cholerisch brüllen, sind das noch Normalbürger oder doch schon Menschen, die in psychiatrische Behandlung gehören?
Die, die damals in die Fremdenlegion gingen und die, die heute in den Djihad ziehen, noch... doch schon...?
Pfaffen, die Messdienern vergewaltigen und Nonnen, die Kinder mißhandelten, noch... oder schon...?
Menschen, die Alkohol trinken und sich doch ans Steuer setzen, noch oder doch schon...?
Die Liste könnte ich endlos ausweiten.
Aber so lang sie auch werden würde, es bleiben Ausnahmen!

Ich kann deinen Ausführungen leider nicht mehr folgen, was ich bedaure.
Abendgrüße von Koko

Erich Kykal 26.08.2016 02:37

Hi Koko!

Ich habe keine Ahnung, warum du dich offenbar angegriffen fühlst und so heftig reagierst. Wenn du meinen Gedanken nicht folgen willst, dann lass es, aber erspare mir bitte solche sinnlosen Ausbrüche gedankenlosen Gutmenschentums.

Gewalt ist Teil des Menschen, Gewalt IST alltäglich, mal psychisch, mal physisch. Meist können wir sie (ab)lenken, manchmal aber haben wir es nicht in der Hand, und dann lenkt sie uns, von außen oder von innen. Würdest du dich nicht wehren, wenn man dich mit Fäusten angreift? Und der andere duckt sich falsch weg, und dein Hieb erwischt ungewollt die Kehle? Du bist dran wegen Notwehrüberschreitung, wenn der Typ erstickt und seine Kumpels alle übereinstimmend aussagen, du hättest bewusst auf diese Stelle gezielt. Es gibt keine Gerechtigkeit, nur Subjektivität, Pauschalurteil oder Gehässigkeit.

Du möchtest ein wahres Beispiel? Aber gerne:

Ich war 16 Jahre alt und ein seit Jahren schwer gemobbter Teenager ohne Selbstwertgefühl. Ein Außenseiter, ein dickes kleines Opfer mit Brille. Ein schüchterner "Nerd", auch wenn es das Wort damals noch nicht gab.
Als ein etwa gleichaltriger Idiot witzig sein wollte und mir einen Eimer Wasser ins Gesicht schüttete, bin ich einfach gegangen.
Als er aber vor den anderen johlenden Idioten besonders angeben wollte und mir einen zweiten Eimer hinterherschüttete, hat irgendetwas "Klick" in mir gemacht. Das nächste, was ich weiß, ist, dass ich auf dem Kerl draufsaß, wie ein Tier knurrte und ihn würgte, sodass er schon blau anlief und röchelte.
Später erzählte man mir, dass ich ihn aus dem Stand angesprungen, brüllend über den Kopf gestemmt und wie eine Stoffpuppe meterweit auf den Rasen geschleudert hatte, danach hatte ich mich auf ihn gesetzt, seine Arme einfach zur Seite geschlagen und begonnen, ihn zu würgen.
Als ich wieder bewusst denken konnte, gab ich ihn sofort frei und war zutiefst schockert über dieses Geschehnis. Ich war so verdattert, dass der Idiot mich verprügeln konnte, nachdem er sich erholt hatte.

Aber Fakt ist: Hätte ich damals eine Waffe zur Hand gehabt, und wäre es nur irgendein ansonsten harmloser "stumpfer schwerer Gegenstand" gewesen, der Idiot wäre wahrscheinlich ein toter Idiot gewesen.
Bin ich deshalb ein schlechter Mensch? Ist das Monster in mir gefählicher als in anderen Menschen? Bin ich verachtenswert dafür, weil ich einmal die Beherrschung verlor und zum Berserker wurde, nachdem jahrelange Demütigung sich in einem einzigen Akt Erlösung und Genugtuung verschaffen wollte? Schlechter Charakter? Schlechte Erziehung? Sonst noch platte Klischees auf Lager?!

Ich habe nie wieder im Leben auf ernst gekämpft und auch nie wieder die Beherrschung verloren. Aber es hätte anders kommen können. Wie oberflächlich und pauschal hätten Leute wie du dann wohl über mich geurteilt?
Ich war später 15 Jahre lang Rocker (Wahrscheinlich eine Überkompensation für meine "nerdige" Kindheit und Jugend) und habe zahllose Bikertreffen besucht, mich dort betrunken, ohne je aggressiv zu werden. Ich habe dort etliche Straftäter und sogar ehemalige Mörder kennengelernt und mit ihnen getrunken, und es waren Menschen wie andere auch. Ich habe gelernt, wie schnell es schiefgehen kann, wie rasch ein paar Sekunden ein Menschenleben verändern können, und wie blind eine besserwisserische und hochmütige Gesellschaft sein kann, die niemals vergibt.

Wie gesagt, ich spreche nicht von den Arschlöchern und Soziopathen, den Wichtigtuern und Gemeinen. Ich spreche von jenen Verurteilten, die wie andere sind und ein Gewissen haben, das sie quält, mal ganz abgesehen von verallgemeinernden Menschen wie du, die offenbar nicht über ihre Nasenspitze hinausdenken wollen oder können. Weil ich weiß, wie es mir heute vielleicht ergehen würde, von innen wie von außen, wenn ich damals ganz zufällig einen stumpfen Gegenstand in der Hand gehabt hätte!

Mehr werde ich dazu nicht mehr sagen, und ich hoffe, du hältst es genauso. Denn wer weiß, was passieren könnte, wenn du mich wütend machst ... :Aua:rolleyes:

Kokochanel 26.08.2016 09:33

Guten Morgen, Erich,

es tut mir leid, wenn ich dich verletzt habe, aber ich konnte ja nicht wissen, dass es ein persönliches Gedicht ist und so eine Geschichte dahinter steht. Meine Äußerungen bezogen sich auf die fiktiven Beispiele, die du und ich durchgespielt haben.
Ich fühlte mich auch nicht angegriffen, konnte nur nicht verstehen. Jetzt kann ich es.

Ich gehöre zwar zu den Menschen, die Gewalt grundsätzlich eigentlich ablehnen, aber ich denke, Notwehr ist eine andere Situation. Dass Notwehr in unseren Gesetzen, so empfindet man es subjektiv, den Täter begünstigt und eine massive Gegenwehr problematisch macht, sehe ich kritisch.
Was würde ich tun, wenn mich einer angreift? Wenn ich könnte, würde ich fliehen, so wie du es mit dem ersten Eimer getan hast. Könnte ich es nicht, würde ich versuchen, mich zu wehren. Als Frau sind die Möglichkeiten jedoch begrenzt.

Der von dir geschilderte Fall ist etwas völlig anderes. Ein Mensch, der über viele Jahre mit Mobbing gequält wurde ( ich sah einmal eine Doku darüber und war entsetzt, da wurden Menschen ins Klo getunkt und mit dem Eimer, das war auch schon echte Gewalt) und dann noch beim ersten Eimer geht, Hut ab!

Mobbing müsste als Gewalt definiert sein und strafbar sein. Denn es ist Gewalt. Sie hinterlässt keine Spuren wie Schläge, aber sie hinterlässt Spuren in der Seele. Die wirklichen Soziopathen sind die, die auf solche Weise mobben, nicht, die, die sich wehren.

Jetzt verstehe ich auch deine Anmerkung mit dem Glück haben. Glück hat, wer nicht „groß auffällt“ und kein Mobbingopfer wird.

Dass du deine persönliche Geschichte erzählt hast, finde ich mutig. Respekt. Sie hat mich sehr berührt.
Grüße von Koko

Wodziwob 26.08.2016 10:28

Zitat:

Zitat von Kokochanel (Beitrag 96425)
Ich glaube nicht, dass man es so leichtfertig darstellen kann. Nein, ich glaube nicht, dass jeder einmal in seinem Leben grundsätzlich solche Augenblicke hatte.
Ich kenne sowas nicht und ich kenne auch keinen, der sie kennt.
.


Jetzt schon. Mich. :D

Kindlicher Jähzorn? Mein Raufbruder hat Blut gespuckt, als ich ihn zu heftig im Schwitzkasten drückte, und ich wurde nie gemobbt, von niemandem. Wir blieben auch beste Freunde, im Knabeninternat entlädt sich derlei archaisches Wesen ungehemmt und immer wieder mal.

Hatte auch nie Probleme mit Rockern, damals waren sie weit entfernt von den kriminellen Vereinigungen von heute. Da gab es Gesetze und Ethik, strenge Sitten und Stammesriten, und einen "Langzotteligen" am Feuer mitsaufen lassen, dafür waren sie immer offen. Oh ja, harte Kerle drunter.

Knast von innen gesehen, Ordnungshaft, im Gerichtsaal wegen einer Bagatelle das Falsche gesagt und getan. Mörder in meinem Flur, haben einen Taxifahrer erstochen. Andere Welt, Überlebenskampf pur, aber gute Leute drin. Im Stockwerk drunter saß einer ein, der seine Frau ermordet hatte. Hat sich wenige Tage nach meiner Entlassung in der Zelle erhängt.

Grenzbereiche, Abgründe, Entscheidungspein, Gewissensqual? Erzähl mir nichts. Wir sind alle ausnahmslos des Mordes fähig, ist einfach so, da sollte niemand sich belügen. Man kann sich entscheiden, das ja, mehr aber auch nicht. Und es gibt Grenzfälle, wo nicht einmal das mehr möglich ist. Totschlag im Affekt nennt sich das dann, bei Männern immer drin und schneller als man glaubt. Obwohl ich als Jugendlicher und Erwachsener nie in eine ernsthafte Schlägerei verwickelt war (hatte mich quasi als Kind ausgetobt), Möglichkeiten gegeben hätte es reichlich. Damals wurde auch auf keinen am Boden Liegenden eingetreten, das war eine Tabuverletzung höchsten Grades.

Straftaten sind nur im seltenen Fall Verbrechen. Für ein solches bedarf es des willentlichen Vorsatzes. Und da fängt das Böse an, genau an dieser Schwelle. Der Rest ist ein "dumm gelaufen".

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Tja, eKy, es ist nicht immer ohne Risiko, die menschlichen Abgründe seiner Lebenserfahrung sichtbar werden zu lassen. Macht Angst. Und hat solche Reaktionen zur Folge. Mit "Gutmenschentum" hat das nichts zu tun. Ist mehr so ein Selbstschutzmechanismus. Genau genommen eine natürliche Abwehrreaktion, ein Reflex gewissermaßen. Und ganz sicher nicht abwertend böse gemeint. Ein ganz normales "Du erschreckst mich. Du machst mir Angst". Der Mensch ist zum Fürchten, insbesondere der "starke" Mann. Gar keine Frage.

Und jetzt umarmt Euch mal. Ist doch nichts passiert. ;)


Liebe Grüße :)
Wozi

Kokochanel 26.08.2016 11:59

Guten Morgen, Wodziwob,

ich denke, über das von dir gebrachte Zitat sind wir in der Diskussion bereits hinaus und durchaus auf Annäherungskurs.:).
Deine Erfahrungen mit Internat sind interessant und auch dieses ist eine "Ausnahmesituation": Jugendliche, für ewige Zeit zusammengepfercht ohne Rückzugsmöglichkeit, ohne Vertrauensperson.
Ich denke sogar, dass auch da viel Raum für Mobbing ist...

Ich möchte mich nun hier nicht mehr einlassen, da ich keine Erfahrung in der Art habe und es ohnehin nur Vermutungen wären.
:)
Denke aber nicht, dass dieser Meinungsausstausch uns davon abhält, uns weiterhin freundlich zu kommentieren. Alles gut.;)
Grüße von Koko

Wodziwob 26.08.2016 12:59

Dann bin ich ja froh, Koko! :)

Brave Grüße ;)
Wozi

Falderwald 28.08.2016 10:09

Servus Erich,

ich habe mir sowohl den Text als auch die Kommentare durchgelesen und bin zu der Überzeugung gekommen, dass sich sehr viele Menschen in dem Text durchaus wiederfinden können, nein besser, dass sich alle Menschen in der ein oder anderen Weise an die eigene Nase fassen können, denn die Interpretationsmöglichkeiten dieses Sonnetts gehen meiner Meinung nach weit über das von dir gebrachte Eigenbeispiel hinaus.

Im Text geht es ja nicht nur um körperliche Gewalt, sondern ganz allgemein um Dinge, die man im Laufe des Lebens getan (oder auch vielleicht unterlassen) hat und die einem im Nachhinein schwer zu schaffen machen.

Und ich kenne niemanden, der nicht auf die ein oder andere Weise gefehlt hätte. Wer das von sich behauptet, der ist nicht ehrlich, den anderen gegenüber und sich selbst gegenüber schon mal gar nicht.
Vielleicht kann er es auch nur nicht, aber wir sind alle keine Englein, die ihr Leben immer nur treu und brav gestaltet haben.

Ich kann mich an dieser Stelle ebenfalls outen, auch wenn es sich nicht um eine Gewalttat im eigentlichen Sinne handelte, nicht mal um einen Gesetzesverstoß, aber es war eine unmoralische Handlung, die mir schwer auf dem Gewissen lastete.
Wahrscheinlich war ich als junger Mann noch zu unerfahren und unreif und viel zu egoistisch, denn ich habe eine ehrliche und aufrichtige Liebe getötet.
Das war aber nicht das Schlimmste daran, sondern die Art und Weise, wie das geschehen ist, denn es hat die Betroffene ins Unglück gestürzt und sie viel von ihrem Selbstbewusstsein gekostet.
Es hat lange gebraucht, aber es lastete auf meinem Gewissen.

Vor einiger Zeit schon hat mir die entsprechende Person dies mit klaren Worten mitgeteilt, denn sie musste sich das einmal von der Seele reden. Ich war sehr erschüttert darüber. Nicht weil sie es getan hatte, sondern weil sie mit allem Recht hatte.

Das hat sehr an mir genagt, nicht zuletzt, weil meine Handlung ja auch nur ein Schritt auf dem Weg war, den ich bisher gegangen bin und der mich bis hierhin geführt hat. Letztendlich habe ich davon profitiert.

Das ist eine Angelegenheit, die ich mir selbst niemals verzeihen werden kann. Aber vor ein paar Wochen habe ich auf meiner Reise in die alte Heimat mit dieser Person das Gespräch gesucht und mir ist verziehen worden.

Vielleicht habe ich es auch geschafft, ihr Selbstbewusstsein wieder ein wenig aufzubauen, so hoffe ich zumindest, aber mir hat es auf jeden Fall geholfen.

Und dennoch wird dies der Apostel meines Abgrundes bleiben.

In diesem Sinne hat mir dein Sonett gut gefallen, denn es bietet Raum für Selbstbetrachtung und eine Auseinandersetzung mit dem Dasein der eigenen Schattenseiten.


Gern gelesen, reflektiert und kommentiert...:)


Liebe Grüße

Bis bald

Falderwald



Erich Kykal 28.08.2016 10:17

Hi Faldi!

Vielen Dank, du bringst meine Intention genau auf den Punkt!

Jeder hat Leichen im Keller, auch wenn es bei den meisten nur metaphorische sind - der Schmerz und die Reue nagen fast überall!

LG, eKy


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