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Archiv verlassen und diese Seite im Standarddesign anzeigen : urgroßvaters zimmer


fee
16.01.2012, 09:17
knorrige finger
die strähnen zausen
ein feines zittern
beim streichen über
mein gesicht
wie über die seiten
deiner tausend bücher

ich auf deinem schoß
die wange weich
an schneeweißen bartstoppeln
in deiner stimme
so viel erlebtes
und dieser hauch
vom angekommen-sein

ewig gleiche geschichten
doch stets aufs neue
immer noch
lebendig
wird deine stimme brüchig
wird feind zum kameraden
wird alles geteilte furcht

auch wir
rücken näher
die fingerknöchel weiß
vom einander halten

in deinem zimmer






.fee ´12

Chavali
17.01.2012, 09:29
Liebe fee,

was für eine ergreifende Geschichte!

Ich stelle mir hier die letzten Stunden des alten Mannes vor - ein Urgroßvater - wer hat den schon noch heute.
Das wäre ein großes Geschenk für alle Kinder.
Die meisten haben ja nicht mal mehr einen Großvater, weil all die jungen (!)
Mütter ihre Kinder erst im jugendlichen Alter
von über 40, in Worten - vierzig - bekommen....!

Dein Text berührt. Er berührt so sehr, dass ich an meine Mutter denken musste :(

...


Solche letzten Stunden, wie du sie beschreibst, graben sich unauslöschlich in eine Kinderseele ein.
Und wenn man nach vielleicht langen Jahren in dieses Zimmer zurückkehrt,
ist alles wieder sehr lebendig....

Sehr sanft, sehr intensiv.


Lieben Gruß,
Chavali

fee
17.01.2012, 10:25
liebe chavali,

wie freuen mich deine schönen zeilen!

ich habe meinen urgroßvater noch gehabt. er wurde 92 und hat eigentlich wenig erzählt. wenn, dann war spürbar, dass ihn da vieles aus den kriegszeiten begleitete und immer noch in ihm arbeitete.

mein sohn hat das seltene privileg noch zwei urgroßmütter erleben zu dürfen. die eine starb im vorigen jahr im stolzen alter von 87, die andere wird heuer 90. und die hab ich da alle in die eine figur verschmolzen, denn die erzählten und erzählen viel über diese zeit voller gefahr, voller angst um die lieben, voller ungewissheit, ob der nächste tag noch erlebt wird. das ist fast wie ein mantra, stets der gleiche fast formelhafte ablauf der einzelnen anekdoten. und wir - mein mann und ich - als enkel, sind sozusagen das buch, in das sie geschrieben werden. das buch, das rückmeldet und auch mal die hand hält. wenn mein sohn dabei ist (er ist jetzt 8einhalb), wirkt das wie ein zusätzlicher motivator, die guten dinge am geschehenen hervorzuheben. die "urlis" erzähl(t)en dann viel "milder", viel positiver - dennoch blieben die ängste und selben situationen das thema.

ich selbst habe im herrenzimmer meines urgroßvaters wundervolle verzauberte stunden der zweisamkeit mit ihm verbracht. alte stilmöbel, gemälde an der wand, die schallplattensammlung mit klassik rauf und runter und der alte plattenspieler und natürlich das weltradio. meist haben wir musik gehört. ich auf seinem schoß. manchmal hat er ein wenig erzählt. "wohldosiert". das waren sehr innige stunden.

da den eigenen kindern von diesen dingen nie erzählt werden konnte, ohne auf abwehr zu stoßen, waren (und sind) enkel und urenkel für ihre ur/großeltern da ein heilsames "publikum". vieles wird da geteilt, was bislang weggeschwiegen und allein verkraftet werden musste. das ist auch kein rüberladen von ganz viel angst und schrecken - eher so eine rückschau mit dem grundthema des überlebens und zusammenfindens auch in der größten not. irgendwie tun sich da also beide seiten gut, weil sie genau so sind, wie sie sind. die eine zu erfahren, um zu verdrängen, die andere zu klein, um es in all der wucht des schreckens präsentiert zu bekommen. das ist eine "heilsame" kombination, scheint mir.

das und meine zeit mit meinem urgroßvater hab ich also versucht zu verarbeiten. ganz viel erinnertes gefühl (ich erinnere noch den geruch und die geräusche im zimmer meines urgroßvaters. auch das gedämpfte licht. und das wohlige gemeinsame schweigen) und beobachtetes im dialog mit den urlis meines sohnes fließen da zusammen.

daher freut mich umso mehr, wenn es dich berühren kann. und eigene erinnerungen in dir weckt.

lieben dank also für deinen feinen kommentar!


deine fee

Sidgrani
17.01.2012, 12:57
Hallo fee,

da hast du deinem Urgroßvater ein wirklich schönes Denkmal gesetzt.

Er würde sich sehr freuen, wenn er das noch lesen könnte. So leben unsere lieben Verstorbenen doch gerne weiter. Nicht nur in unseren Gedanken sondern auch in so wunderbaren Gedichten.

Liebe Grüße
Sidgrani

fee
17.01.2012, 13:09
danke für diese lieben zeilen, sidgrani! :)


herzliche grüße

fee