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Archiv verlassen und diese Seite im Standarddesign anzeigen : Wahrnehmung


Dana
17.03.2011, 21:04
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Er blieb allein im großen Stadgetriebe,
ein Eremit im Riesenblockgebiet.
Nur in der Früh, im Straßenbahngeschiebe,
da sah man ihn und auch, dass er nichts sieht.

Sein Blick war stets auf einen Punkt gerichtet,
kein Schubs entlockte eine Reaktion,
er war nicht blind, nicht taub, nur ausgerichtet
auf Nummer acht der Haltestation.

Dort ging er unter in der Menschenmenge
und tauchte abends wieder auf und fuhr,
genauso unberührt von dem Gedränge,
zur Nummer drei, der Wohnbetonkultur.

Mich streiften im Vorübergehen Zeilen,
dass wieder jemand sich das Leben nahm.
Die Gegend stimmte, so dass ich bisweilen
den Eremiten angedacht und kam

auf die Idee, er wäre es gewesen,
was ich verwarf, es kam mir viel zu nah.
Viel schlimmer noch, denn hätt ich nichts gelesen,
dann bliebe wohl sein Bild noch lange da.
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Stimme der Zeit
19.03.2011, 10:42
Hallo, Dana,

hier "ruft" mich eine Stimme zum Kommentar. Ich glaube, sie heißt Wahrnehmung. :)

Er blieb allein im großen Stadtgetriebe,
ein Eremit im Riesenblockgebiet.
Nur in der Früh, im Straßenbahngeschiebe,
da sah man ihn und auch, dass er nichts sieht.

Der starke innere Zusammenhang in deinem Gedicht macht es mir schwierig, eine Strophe einzeln zu betrachten. Deshalb interpretiere ich jeweils im "Bezug" auf die Folgenden.

Das LyrIch sehe ich als Beobachter (eher objektiv, fast, als ob dieser sich für diese Beobachtungen einen Schritt „neben“ sich selbst gestellt hätte).Der Eremit ist offenbar der Stellvertreter (Avatar) des Begriffes "Ein/der Mensch" in der Seelenlosigkeit einer Großstadt. Der Eremit ist allein. Hier wird ein deutliches Gefühl der Einsamkeit, ja, Verlorenheit im "Riesenblockgebiet" auf mich übertragen. Ich sehe das LyrIch vor mir, wie es an der Haltestelle steht, einsam, reglos, während um ihn herum die Leute hin- und hereilen. Er lässt das apathisch über sich ergehen, nimmt das alles nicht wirklich wahr. Jetzt kommt mein Problem. Wenn ich diese Strophe isoliert lese, ist die Darstellung klar. Nur in der Früh,In Strophe 3 ergibt sich ein Widerspruch:und tauchte abends wieder auf - Das "Nur" - :confused:
Die Steigerung von 4 über 5 bis zu 6 Silben finde ich sehr gelungen. Das untermauert den Eindruck von Hektischem „Geschiebe“ und „Getriebe“, da ich hier unweigerlich beim Lesen „beschleunige“.
Super gemacht! :)

Sein Blick war stets auf einen Punkt gerichtet,
kein Schubs entlockte eine Reaktion,
er war nicht blind, nicht taub, nur ausgerichtet
auf Nummer acht der Haltestation.

Hier ist die Beschreibung seines „Nicht-Wahrnehmens“, keine Verdoppelung, in meinen Augen eher eine verdeutlichende Beschreibung. Für den „Eremiten“ existiert hier im Moment nur die Nummer 8. Ich kann gut vor mir sehen, wie er auf den Punkt (diese Zahl) starrt, mit leerem Blick. Hier habe ich eine Diskrepanz zwischen Metrum (dessen Rhythmus) und meiner unweigerlich gefühlten Melodie wahrgenommen, beim Wort „Haltestation“. Ob ich nun viersilbig oder fünfsilbig betone, hier „stolperte“ ich. Bitte versteh das nicht falsch, das ist nur etwas, das mir seit ganz kurzer Zeit unwillkürlich passiert. Wirklich gute Werke tragen für mich eine innere „Melodie“, die mir Freude schenkt. Für mich sind jetzt solche Gedichte Bilder, mit Worten gemalt, Geschichten, mit Worten erzählt und jetzt auch Lieder, mit Silben als Noten. Geschieht von alleine, meist bereits in der ersten Strophe. Und „Haltestation“ ist wie ein (einziger!) Misston, nicht falsch, aber ich „höre“ ihn leider raus, irgendwie ... Lass das Wort aber ruhig stehen! Das ist ja nur mein eigenes Gefühl – das ich nicht wirklich erklären und daher nicht behaupten kann, es wäre richtig … :o

Dort ging er unter in der Menschenmenge
und tauchte abends wieder auf und fuhr,
genauso unberührt von dem Gedränge,
zur Nummer drei, der Wohnbetonkultur.

Er steigt in seine Bahn, verschwindet im „Nirgendwo“ der Stadt, „verschluckt“ bzw. „untergegangen“. In der „Menge“ kann man ihn nicht sehen. Jetzt ist der Wechsel sehr aprupt, aber auch (meiner Meinung nach) schlüssig. Den ganzen Tag über ist der „untergegangen“ bis er wieder „auftaucht“. Das unterstreicht die Bedeutung seines „Eremitendaseins“. Hm, jetzt sehe ich eine andere Haltestelle, wo er den gleichen Weg geht, nur umgekehrt. Er fuhr also morgens bei Nummer drei los, hin zu Nummer 8, während er abends von Nummer 8 zu Nummer 3 fährt. Monoton, gefällt mir (natürlich nicht!). Erneut findet keine „Berührung“, kein Kontakt statt.

Mich streiften im Vorübergehen Zeilen,
dass wieder jemand sich das Leben nahm.
Die Gegend stimmte, so dass ich bisweilen
den Eremiten angedacht und kam

auf die Idee, er wäre es gewesen,
was ich verwarf, es kam mir viel zu nah.
Viel schlimmer noch, denn hätt ich nichts gelesen,
dann bliebe wohl sein Bild noch lange da.

Dein Enjambement verbindet Strophe 4 und 5 nicht nur optisch, sondern auch inhaltlich. Deshalb möchte ich sie auch im Zusammenhang betrachten. Schlagzeilen in einer Zeitung, man liest sie nebenher, sie dringen nicht wirklich ins Innerste (es gibt zu viel anderes, an das man denken muss), daher „streifen“ sie uns nur. Selbstmorde, heute in der Zeitung, morgen vergessen. Dabei fiel dem LyrIch (dem Erzähler) beinahe beiläufig (so kommt es zu mir „rüber“) „bisweilen“ der Eremit ein. Also gibt es die Schlagzeilen oft, aber nur „ab und zu“ wird ein Gedanke daran bzw. den Eremiten „erübrigt“. Das könnte berühren, daher wird dieser Gedanke sofort „verworfen“. Das Ende finde ich hier sehr beklemmend. Das LyrIch wünscht sich, „hätt ich nichts gelesen“, dann wäre das nichtssagende, beiläufig wahrgenommene Bild lange und vor allem berührung- und störungsfrei als alltägliche Gewohnheit geblieben. Nicht der Mensch, sondern die „Gewohnheit“. Das macht mir zu schaffen. Das LyrIch (Erzähler) interessiert sich nur für den Erhalt der eigenen täglichen Sicherheit in der Unveränderlichkeit aus Bedeutungslosigkeiten, aber nicht für andere Menschen oder deren Schicksale.

Zusammengefasst:

Das Schicksal des heutigen Menschen in der seelenlosen, anonymen Großstadt. Trotz Rempeln (kann man auch übertragen sehen) finden keine zwischenmenschlichen Berührungen (Kontakte) mehr statt. Jeder ist isoliert für sich alleine. Die Existenz des Einzelnen ist bedeutungslos. Trotz dem „Getriebe“ bewegt sich eigentlich nichts. Hin und her, ohne an ein echtes Ziel zu kommen. Gibt es überhaupt noch Ziele? Die Sicherheit wird aus der ständigen Wiederholung der alltäglichen Bedeutungslosigkeiten gewonnen, da es ansonsten keine gibt. Was stören könnte, wird (auch im geistig-inneren Sinn) beiseite geschoben. Heile, trostlose Welt des Daseins, das aufgehört hat, ein Leben zu sein. Leider nur allzu wahr.

Dein Werk hat mich tief berührt. Wer ist nicht manchmal selbst der Eremit? Ein Glück ist, dass es Freunde und Familie gibt, sonst wäre unser Leben heute wirklich trost- und belanglos. :(

Mit dem Vorsatz gelesen, mich künftig mehr um meine anonymen Mitmenschen zu kümmern, denn morgens und abends bei meinen Fahrten in der U-Bahn bin ich selbst einer. :)

Lieben Gruß

Stimme der Zeit

Dana
20.03.2011, 00:25
Hallo Stimme der Zeit,

ich sehe, du bist "mitgefahren" und hast sogar die Wohnbetonkultur angeschaut.

Ich freue mich über deine eingehende Interpretation, die erkannt und getroffen hat.
Das lyr. Ich ist einerseits Beobachter und Kritiker seiner selbst.

Dieser Eremit existiert - und kaum jemand würde ihn wahrnehmen, wenn er nicht zwangsläufig regelmäßig auftauchen würde. Einmal nur und erstmalig morgens. Dieses "nur morgens" bedingt die morgendliche Wiederholung über die abendliche Wiederkehr.

Du hast ganz und gar meine Intention erkannt.

Nur hier will ich das lyr. Ich "verteidigen" und den Kommentator "trösten".

Das Ende finde ich hier sehr beklemmend. Das LyrIch wünscht sich, „hätt ich nichts gelesen“, dann wäre das nichtssagende, beiläufig wahrgenommene Bild lange und vor allem berührung- und störungsfrei als alltägliche Gewohnheit geblieben. Nicht der Mensch, sondern die „Gewohnheit“. Das macht mir zu schaffen. Das LyrIch (Erzähler) interessiert sich nur für den Erhalt der eigenen täglichen Sicherheit in der Unveränderlichkeit aus Bedeutungslosigkeiten, aber nicht für andere Menschen oder deren Schicksale.

Das lyr. Ich erkennt darin eine "Oberflächlichkeit", die vielleicht (bestimmt) keine ist.
Ich möchte nicht wissen, wie viele "Mitreisende" es gibt, die viel größere Leiden erleiden.
Jener "Eremit" könnte jemand sein, der unangetastet nur ein Ziel verfolgt. Er gelangt zu einer Arbeit, wo er ein ganz anderer ist, wo er lebt, redet, wahrnimmt und hilft. Sein Wohnsitz und sein Straßenbahngeschiebe sind "seine Entspannungen", die nur Beobachter als "Einsamkeit" wahrnehmen.

Der Beobachter interpretiert etwas hinein (hier der Lyriker ;)), was nicht wahr sein muss.
Der Eremit reist nicht mehr mit der Straßenbahn, weil er sich ein Auto angeschafft hat. Die Verbindung zur Zeitungsnachricht ist rein zufällig und passt nur, weil er nicht mehr in der Strßenbahn auftaucht.

Dennoch stimme ich dir voll und ganz zu - aus Erfahrung:

Zusammengefasst:

Das Schicksal des heutigen Menschen in der seelenlosen, anonymen Großstadt. Trotz Rempeln (kann man auch übertragen sehen) finden keine zwischenmenschlichen Berührungen (Kontakte) mehr statt. Jeder ist isoliert für sich alleine. Die Existenz des Einzelnen ist bedeutungslos. Trotz dem „Getriebe“ bewegt sich eigentlich nichts. Hin und her, ohne an ein echtes Ziel zu kommen. Gibt es überhaupt noch Ziele? Die Sicherheit wird aus der ständigen Wiederholung der alltäglichen Bedeutungslosigkeiten gewonnen, da es ansonsten keine gibt. Was stören könnte, wird (auch im geistig-inneren Sinn) beiseite geschoben. Heile, trostlose Welt des Daseins, das aufgehört hat, ein Leben zu sein. Leider nur allzu wahr.

Dein Werk hat mich tief berührt. Wer ist nicht manchmal selbst der Eremit? Ein Glück ist, dass es Freunde und Familie gibt, sonst wäre unser Leben heute wirklich trost- und belanglos.

Mit dem Vorsatz gelesen, mich künftig mehr um meine anonymen Mitmenschen zu kümmern, denn morgens und abends bei meinen Fahrten in der U-Bahn bin ich selbst einer.

Ja, :)!
Ein kleiner Gruß, ein einziger unverbindlicher Satz verbindet für den nächsten Tag. Nicht nur um des Eremiten Willen - es tut jedem wohl und ergibt ein Miteinander, das uns vom Eremitendasein befreit - es sei denn, es ist gewollt.

Nochmals lieben Dank für deine Mitreise,
liebe Grüße
Dana